Název projektu Rozvoj vzdělávání na Slezské univerzitě v Opavě Registrační číslo projektu CZ.02.2.69/0.0./0.0/16_015/0002400 Úvod do literatury Distanční studijní text Miroslav Urbanec Opava 2020 Obor: Literatura a lingvistika Klíčová slova: Literatura, literární věda Anotace: Hlavním cílem opory je seznámit posluchače se základními pojmy literární vědy a s německou odbornou terminologií. Dalším cílem je ukázat posluchačům na krátkých modelových textech postup při analýze konkrétních literárních textů (lyrika, epika, drama). Důležitou roli hrají v této souvislosti úkoly, které posluchači vypracovávají doma podle pokynů vyučujícího. Autor: Mgr. Miroslav Urbanec, Ph.D. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 3 Obsah ÚVODEM............................................................................................................................4 RYCHLÝ NÁHLED STUDIJNÍ OPORY...........................................................................5 1 ABGRENZUNG DES BEGRIFFS „LITERATUR“ UND EPOCHEN DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR...........................................................................6 2 FIGURENANALYSE................................................................................................13 3 INHALTSANALYSE................................................................................................20 4 ANALYSE DES VERSBAUS ..................................................................................27 5 ANALYSE DER RHETORISCHEN STILMITTEL ................................................34 6 LITERARISCHE GATTUNGEN 1: LYRIK ............................................................42 7 LITERARISCHE GATTUNGEN 2: EPIK ...............................................................49 8 LITERARISCHE GATTUNGEN 3: DRAMA .........................................................56 9 METHODEN DER LITERATURWISSENSCHAFT...............................................62 10 ÜBUNG ZUR EINZELTEXTANALYSE I..............................................................66 11 ÜBUNG ZUR EINZELTEXTANALYSE II.............................................................69 12 ÜBUNG ZUR EINZELTEXTANALYSE III ...........................................................73 13 ZUSAMMENFASSUNG ..........................................................................................77 LITERATURA ..................................................................................................................81 SHRNUTÍ STUDIJNÍ OPORY.........................................................................................82 Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 4 ÚVODEM Studijní opora je určena studentům bakalářského studijního programu Němčina v odborné praxi jako podpůrný studijní materiál a je napsána německy. Studijní opora obsahuje:  teoretický základ probíraného tématu, eventuelně s konkrétními příklady,  seznam citované a parafrázované literatury,  korespondenční úkoly,  odkaz na LMS kurz. Studijní opora seznámí posluchače se základními pojmy literární vědy a s německou odbornou terminologií. Cílem je, aby si posluchači osvojili metody analýzy textu a způsoby vědecké argumentace. Korespondenční úkoly slouží k upevnění dovedností osvojených v teoretických částech studijní opory. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 5 RYCHLÝ NÁHLED STUDIJNÍ OPORY Studijní opora k předmětu Úvod do literatury přináší informace k literatuře coby objektu vědecké analýzy a také krátký historický přehled německy psané literatury. V popředí zájmu stojí základní pojmy literární vědy a německá odborná terminologie. Student si tak osvojí metody analýzy textu a způsoby vědecké argumentace. K upevnění těchto dovedností slouží korespondenční úkoly, které student vypracuje podle pokynů uvedených v opoře nebo podle pokynů vyučujícího. Studijní opora je rozdělena do 13 kapitol. První kapitola je věnována vymezení pojmu „literatura“ a krátkému přehledu epoch německy psané literatury. Následující čtyři kapitoly se věnuji fenoménům společným pro všechny druhy literatury a učí studenta tyto fenomény analyzovat. Další tři kapitoly jsou věnovány jednotlivým literárním druhům, seznamují studenta s jejich specifiky a přinášejí také informace k historii těchto literárních druhů. Následující kapitola se věnuje nejvýznamnějším literárněvědným metodám. Další tři kapitoly slouží k upevnění osvojených dovedností a obsahují korespondenční úkol v podobě analýzy autentického textu. Závěrečná kapitola obsahuje shrnutí předchozích teoretických kapitol. Abgrenzung des Begriffs „Literatur“ und Epochen der deutschsprachigen Literatur 6 1 ABGRENZUNG DES BEGRIFFS „LITERATUR“ UND EPOCHEN DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR EINLEITEND Das Kapitel grenzt den Begriff „Literatur“ ab und bringt eine Übersicht von Epochen der deutschsprachigen Literatur von deren Entstehung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Es werden die wichtigsten Merkmale der Literatur genannt und die bekanntesten Repräsentanten der einzelnen Epochen der deutschsprachigen Literatur aufgezählt. Der Studierende lernt auf diese Weise die literarischen Texte zu erkennen und die deutschsprachige Literatur historisch zu gliedern. ZIELE Das Kapitel will:  den Begriff „Literatur“ definieren,  die wichtigsten Merkmale der Literatur erläutern,  die einzelnen Epochen der deutschsprachigen Literatur samt deren bekanntesten Repräsentanten aufzählen. SCHLÜSSELWÖRTER Literatur, Epochen der deutschsprachigen Literatur Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 7 DEFINITION – LITERATUR „Ein literarischer Text ist eine Sequenz von Laut- und Schriftzeichen, die fixiert und/oder sprachkünstlerisch gestaltet und/oder ihrem Inhalt nach fiktional ist.“ (Schneider 2008: 9) MERKEN SIE SICH – MERKMALE DER LITERATUR Aus der vorstehenden Definition geht hervor, dass die Literatur drei wichtige Merkmale aufweist: Fixierung, künstlerische Sprachverwendung und Fiktionalität. Fixierung bedeutet, dass literarische Texte gedruckt oder in einem elektronischen Medium bzw. im menschlichen Gedächtnis gespeichert sind. Künstlerische Sprachverwendung bedeutet, dass die in literarischen Texten gebrauchte Sprache (sog. Literatursprache) die ästhetische Funktion der kommunikativen vorzieht oder diese zwei Funktionen zumindest für gleich wichtig hält. Fiktionalität bedeutet, dass der Inhalt literarischer Texte frei erfunden ist. Im Idealfall kombinieren literarische Texte alle diese Merkmale, müssen das aber nicht tun. Als literarisch gilt heute auch ein Text, der nur zwei oder sogar nur eines dieser drei Merkmale aufweist. DEFINITION – EPOCHE „Das Wort Epoche stammt vom griechischen epoché, das ‚Einschnitt‘, ‚Hemmung‘ heißt; in diesem Sinne wurde das Fremdwort auch bis ins 19. Jahrhundert hinein meist verwendet: Ein bestimmtes Ereignis wurde als ‚Epoche‘ bezeichnet, als Abschluss eines Zeitraums bzw. als Beginn eines neuen. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich die heutige Bedeutung des Begriffes durch: Er bezeichnet den Raum zwischen zwei Einschnitten oder Daten. Um einen Zeitraum überhaupt als ‚Epoche‘ bezeichnen zu können, ist man also auf zwei Daten angewiesen. Epochenbezeichnungen können deswegen nur im Rückblick erwogen oder vergeben werden, die eigene Gegenwart ist als Epoche unbestimmbar. Über die beiden Eckdaten hinaus setzen literaturgeschichtliche Epochenbegriffe Gemeinsamkeiten einer bestimmten Textgruppe in einem bestimmten Zeitraum voraus, Merkmale, die er ermöglichen, die Texte eines Zeitraums von denen der angrenzenden Zeiträume unterscheiden zu können. Dabei ist natürlich nur ein Teil der Merkmale epochenspezifisch, andere wiederum bilden stilistische, gattungspoetologische oder andersartige Kontinuitäten.“ (Jeßing / Köhnen 2012: 11) Abgrenzung des Begriffs „Literatur“ und Epochen der deutschsprachigen Literatur 8 MERKEN SIE SICH – EPOCHEN DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR Die deutschsprachige Literatur lässt sich von der Entstehung des deutschsprachigen Schrifttums bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in folgende Epochen gliedern: Althochdeutsche Zeit (750-1050):  8. Jahrhundert: Merseburger Zaubersprüche (zwei Zauberformeln), Abrogans (ein lateinisch-althochdeutsches Glossar).  9. Jahrhundert: Hildebrandslied (ein Heldenlied), Muspilli (eine Dichtung vom Weltende), Heliand und das Evangelienbuch des Otfried von Weißenburg (religiöse Epen). Mittelhochdeutsche Zeit (1050-1350):  12. Jahrhundert: Chansons de geste (Lieder von Taten), in Deutschland vor allem das Rolandslied des Pfaffen Konrad.  Die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert: Hartmann von Aue (die Artusromane Erec und Iwein), Wolfram von Eschenbach (der Artusroman Parzival), Gottfried von Straßburg (der Liebesroman Tristan), Walther von der Vogelweide (Minnesang), Nibelungenlied (eine Heldendichtung von einem unbekannten Au- tor). Frühneuhochdeutsche Zeit (1350-1650):  Johannes von Saaz (Johannes von Tepl): Der Ackermann aus Böhmen (1400), ein Dialog.  Martin Luther: Bibelübersetzung (die vollständige Lutherbibel erscheint 1534), religiöse Schriften.  Sebastian Brant: Das Narrenschiff (1494), eine Satire.  Johann Fischart: Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung (1575), ein experimenteller Roman.  Volksbücher. Barock (1600-1720):  Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey (1624), eine Poetik.  Paul Gerhardt: O Haupt voll Blut und Wunden (1656), ein Kirchenlied.  Andreas Gryphius: Es ist alles eitel (1637), ein Gedicht; Leo Armenius (1657), Katharina von Georgien (1657), Carolus Stuardus (1657), Trauerspiele.  Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1668, heute meist Simplicius Simplicissimus genannt), ein Roman. Aufklärung (1720-1800): 1. Rationalismus: Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 9  Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1729), eine Poetik. 2. Empfindsamkeit:  Christian Fürchtegott Gellert: Die Betschwester (1745), ein Lustspiel; Das Leben der Schwedischen Gräfin von G… (1747/48), ein Roman.  Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias (1773), ein Epos; Oden (mehrere Sammlungen).  Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson (1755), Minna von Barnhelm (1767), Emilia Galotti (1772), Nathan der Weise (1779), Dra- men. 3. Sturm und Drang:  Johann Gottfried Herder: Volkslieder (1778/79), eine Volksliedsamm- lung.  Gottfried August Bürger: Lenore (1773), eine Ballade.  Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister (1774), Die Soldaten (1776), Dramen.  Johann Wolfgang Goethe: Götz von Berlichingen (1773), ein Drama; Die Leiden des jungen Werthers (1774/1787), ein Roman.  Friedrich Schiller: Die Räuber (1781); Kabale und Liebe (1783), Dra- men. 4. Weimarer Klassik:  Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris (1787), Egmont (1788), Dramen; Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), ein Roman; Faust (1808/32), ein Drama.  Friedrich Schiller: Wallenstein (1799), Maria Stuart (1800), Die Jungfrau von Orleans (1801), Wilhelm Tell (1803/04), Dramen. Romantik (1798-ca. 1830): 1. Frühromantik (Jenaer Romantik):  Friedrich Schlegel: Lucinde (1799), ein Roman.  August Wilhelm Schlegel: Shakespeare-Übersetzungen.  Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802), ein Roman; Hymnen an die Nacht (1800), ein Gedichtband.  Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert (1797), ein Märchen. 2. Hochromantik (Heidelberger Romantik):  Clemens Brentano und Achim von Arnim: Des Knaben Wunderhorn (1805-1808), eine Liedersammlung.  Jakob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1812-1858), eine Märchensammlung.  Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher (1807), eine Edition. 3. Spätromantik:  Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts (1826), eine Erzählung. Abgrenzung des Begriffs „Literatur“ und Epochen der deutschsprachigen Literatur 10  E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf (1814/19), eine Erzählung. Autoren außerhalb der Romantik und Klassik:  Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg (1809/10), ein Drama; Michael Kohlhaas (1808), Die Marquise von O. (1808), Novellen.  Friedrich Hölderlin: Hyperion (1797/99), ein Briefroman; Hälfte des Lebens (1804), Brod und Wein (1807/1884), Gedichte. Restaurationszeit (1815-1848): 1. Biedermeier:  Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag (1855), eine Novelle.  Anette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842), eine Novelle; Lyrik, Balladen.  Franz Grillparzer: König Ottokars Glück und Ende (1823), ein Drama.  Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne (1842), eine Novelle. 2. Junges Deutschland:  Heinrich Heine: Reisebilder (1826-1830), Essaysammlungen; Das Buch der Lieder (1827), ein Gedichtband; Deutschland. Ein Wintermärchen (1844), ein Epos.  Georg Büchner: Der Hessische Landbote (1834), ein Pamphlet; Lenz (1835), eine Erzählung; Woyzeck (1837), ein Drama. 3. Die sog. Achtundvierziger:  Georg Herwegh: Gedichte eines Lebendigen (1841/44), eine Gedicht- sammlung.  Ferdinand Freiligrath: Ein Glaubensbekenntnis (1844), eine Gedicht- sammlung. Realismus (1848-1890): 1. In Deutschland:  Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888), eine Novelle.  Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse (1856), ein Roman.  Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862-89), eine Reportagensammlung; Effi Briest (1894-95), ein Roman.  Friedrich Hebbel: Maria Magdalena (1843), ein Drama. 2. In der Schweiz:  Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1853-55/79-80), ein Roman; Die Leute von Seldwyla (1856/73-74), eine Novellensammlung.  Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (1880), eine Novelle. 3. In Österreich:  Marie von Ebner-Eschenbach: Das Gemeindekind (1887), ein Roman.  Ferdinand von Saar: Novellen aus Österreich (1877ff.).  Ludwig Anzengruber: Der G'wissenswurm (1874), ein Drama. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 11 Naturalismus (1890-1900):  Arno Holz, Johannes Schlaf: theoretische Schriften, Gedichte, Novellen, Dra- men.  Gerhart Hauptmann: Die Weber (1892), Der Biberpelz (1893), Dramen. Literatur der Jahrhundertwende / Fin de siècle:  Impressionismus: Max Dauthendey, Richard Dehmel, Detlev von Liliencron.  Symbolismus: Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke.  Neuromantik: Gerhart Hauptmann, Ricarda Huch, Hermann Hesse. Expressionismus (1905-1925):  Georg Heym: „Der Krieg“ (1911), „Der Gott der Stadt“ (1911), „Die Stadt“ (1913), Gedichte.  Gottfried Benn: Morgue und andere Gedichte (1912), eine Gedichtsammlung.  Georg Trakl: Sebastian im Traum (1915), eine Gedichtsammlung.  Walter Hasenclever: Der Sohn (1914), ein Drama.  Ernst Toller: Die Wandlung (1919), ein Drama. Literatur der Weimarer Republik (1919-1933): 1. Epik:  Marieluise Fleißer: Mehlreisende Frieda Geier (1931), ein Roman.  Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz (1929), ein Roman.  Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1930), ein Ro- man.  Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues (1929), ein Roman.  Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter (1925), eine Reportagensamm- lung. 2. Drama:  Georg Kaiser: Gas I-II (1918/1920).  Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick (1931).  Marieluise Fleißer: Pioniere in Ingolstadt (1928/1929/1968). 3. Lyrik:  Gebrauchslyrik (z. B. Kabarettlieder): Walter Mehring, Kurt Tucholsky und Erich Kästner.  Naturlyrik: Oskar Loerke, Günter Eich, Peter Huchel, Elisabeth Langgässer u. a. Literatur im NS-Deutschland und im Exil (1933-1945): 1. Völkisch-nationale Literatur:  Will Vesper: Das harte Geschlecht (1931), ein Roman.  Hanns Johst: Schlageter (1933), ein Drama.  Josefa Berens-Totenohl: Der Femhof (1934), Roman. Abgrenzung des Begriffs „Literatur“ und Epochen der deutschsprachigen Literatur 12 2. Antifaschistische Untergrundliteratur:  Jan Petersen (1906-1969): Unsere Straße (1936), ein Roman. 3. Literatur der inneren Emigration:  Rudolf Alexander Schröder: Die Ballade vom Wandersmann (1937), eine Gedichtsammlung.  Reinhold Schneider: Las Casas vor Karl V. (1938), eine Erzählung.  Gertrud Kolmar: Die Frau und die Tiere (1938), eine Gedichtsammlung. 4. Exilliteratur:  Anna Seghers: Das siebte Kreuz (1942), Roman.  Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935), Die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938), Romane.  Thomas Mann: Lotte in Weimar (1939), Doktor Faustus (1947), Romane.  Bertolt Brecht: Svendborger Gedichte (1939), eine Gedichtsammlung; Mutter Courage und ihre Kinder (1941), Drama.  Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes (1947), eine Gedichtsamm- lung. ZUSAMMENFASSUNG Der Begriff „Literatur“ ist heute sehr weit gefasst. Als literarisch gelten Texte, die zumindest eines von den folgenden Merkmalen aufweisen: Fixierung, künstlerische Sprachverwendung und Fiktionalität. – Die deutschsprachige Literatur wird historisch in mehrere Epochen gegliedert. Alle Epochenbezeichnungen wurden im Rückblick aufgrund der Gemeinsamkeiten einer bestimmten Textgruppe in einem bestimmten Zeitraum formuliert und vergeben. SEKUNDÄRLITERATUR Das Kapitel arbeitet mit folgender Sekundärliteratur:  Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart; Weimar.  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 13 2 FIGURENANALYSE EINLEITEND Das Kapitel beschäftigt sich mit den literarischen Figuren und deren Analyse. Der Fokus liegt auf der Terminologie, die bei der Figurenanalyse verwendet wird, und auf den Merkmalen, die die Figuren aufweisen und die bei der Figurenanalyse berücksichtigt werden müssen. Die theoretischen Begriffe werden anhand eines authentischen Textes erläutert. Der Studierende lernt auf diese Weise die literarischen Figuren zu erkennen und eignet sich das Know-how für deren Analyse an. ZIELE Das Kapitel will:  den Begriff „literarische Figur“ definieren,  die wichtigsten Termini erläutern, deren Kenntnis für die Figurenanalyse notwendig ist,  die Merkmale der literarischen Figuren beschreiben. SCHLÜSSELWÖRTER Literarische Figur, Hauptfigur, Nebenfigur Figurenanalyse 14 FALLSTUDIE – AUTHENTISCHER TEXT Wilhelm Hauff: Die Geschichte von Kalif Storch (Auszug) Kaum hatte am andern Morgen der Kalif Chasid gefrühstückt und sich angekleidet, als schon der Großvezier erschien, ihn, wie er befohlen, auf dem Spaziergang zu begleiten. Der Kalif steckte die Dose mit dem Zauberpulver in den Gürtel, und nachdem er seinem Gefolge befohlen, zurückzubleiben, machte er sich mit dem Großvezier ganz allein auf den Weg. Sie gingen zuerst durch die weiten Gärten des Kalifen, spähten aber vergebens nach etwas Lebendigem, um ihr Kunststück zu probieren. Der Vezier schlug endlich vor, weiter hinaus an einen Teich zu gehen, wo er schon oft viele Tiere, namentlich Störche, gesehen habe, die durch ihr gravitätisches Wesen und ihr Geklapper immer seine Aufmerksamkeit erregt haben. Der Kalif billigte den Vorschlag seines Veziers, und ging mit ihm dem Teich zu. Als sie dort angekommen waren, sahen sie einen Storchen ernsthaft auf und ab gehen, Frösche suchend, und hie und da etwas vor sich hinklappernd. Zugleich sahen sie auch weit oben in der Luft einen andern Storchen dieser Gegend zuschweben. »Ich wette meinen Bart, gnädigster Herr«, sagte der Großvezier, »wenn nicht diese zwei Langfüßler ein schönes Gespräch miteinander führen werden. Wie wäre es, wenn wir Störche würden?« »Wohl gesprochen!« antwortete der Kalif. »Aber vorher wollen wir noch einmal betrachten, wie man wieder Mensch wird. – Richtig! dreimal gen Osten geneigt und Mutabor gesagt, so bin ich wieder Kalif und du Vezier. Aber nur ums Himmels willen nicht gelacht, sonst sind wir verloren!« Während der Kalif also sprach, sah er den andern Storchen über ihrem Haupte schweben, und langsam sich zur Erde lassen. Schnell zog er die Dose aus dem Gürtel, nahm eine gute Prise, bot sie dem Großvezier dar, der gleichfalls schnupfte, und beide riefen: »Mutabor.« Da schrumpften ihre Beine ein, und wurden dünn und rot, die schönen gelben Pantoffel des Kalifen und seines Begleiters wurden unförmliche Storchfüße, die Arme wurden zu Flügeln, der Hals fuhr aus den Achseln und ward eine Elle lang, der Bart war verschwunden und den Körper bedeckten weiche Federn. »Ihr habt einen hübschen Schnabel, Herr Großvezier«, sprach nach langem Erstaunen der Kalif. »Beim Bart des Propheten, so etwas habe ich in meinem Leben nicht gesehen.« »Danke untertänigst«, erwiderte der Großvezier, indem er sich bückte, »aber wenn ich es wagen darf zu behaupten, Eure Hoheit sehen als Storch beinahe noch hübscher aus, denn als Kalif. Aber kommt, wenn es Euch gefällig ist, daß wir unsere Kameraden dort belauschen, und erfahren, ob wir wirklich Storchisch können?« Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 15 Indem war der andere Storch auf der Erde angekommen; er putzte sich mit dem Schnabel seine Füße, legte seine Federn zurecht, und ging auf den ersten Storchen zu. Die beiden neuen Störche aber beeilten sich in ihre Nähe zu kommen, und vernahmen zu ihrem Erstaunen folgendes Gespräch: »Guten Morgen, Frau Langbein, so früh schon auf der Wiese?« »Schönen Dank, lieber Klapperschnabel! ich habe mir nur ein kleines Frühstück geholt. Ist Euch vielleicht ein Viertelchen Eidechs gefällig, oder ein Froschschenkelein?« »Danke gehorsamst; habe heute gar keinen Appetit. Ich komme auch wegen etwas ganz anderem auf die Wiese. Ich soll heute vor den Gästen meines Vaters tanzen, und da will ich mich im stillen ein wenig üben.« Zugleich schritt die junge Störchin in wunderlichen Bewegungen durch das Feld. Der Kalif und Mansor sahen ihr verwundert nach; als sie aber in malerischer Stellung auf einem Fuß stand, und mit den Flügeln anmutig dazu wedelte, da konnten sich die beiden nicht mehr halten, ein unaufhaltsames Gelächter brach aus ihren Schnäbeln hervor, von dem sie sich erst nach langer Zeit erholten. Der Kalif faßte sich zuerst wieder: »Das war einmal ein Spaß«, rief er, »der nicht mit Gold zu bezahlen ist; schade! daß die dummen Tiere durch unser Gelächter sich haben verscheuchen lassen, sonst hätten sie gewiß auch noch gesungen!« Aber jetzt fiel es dem Großvezier ein, daß das Lachen während der Verwandlung verboten war. Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen mit. »Potz Mekka und Medina! das wäre ein schlechter Spaß, wenn ich ein Storch bleiben müßte! Besinne dich doch auf das dumme Wort, ich bring es nicht heraus.« »Dreimal gen Osten müssen wir uns bücken, und dazu sprechen: Mu – Mu – Mu –« Sie stellten sich gegen Osten und bückten sich in einem fort, daß ihre Schnäbel beinahe die Erde berührten; aber, o Jammer! das Zauberwort war ihnen entfallen und sooft sich auch der Kalife bückte, so sehnlich auch sein Vezier Mu – Mu dazu rief, jede Erinnerung daran war verschwunden, und der arme Chasid und sein Vezier waren und blieben Störche. – Quelle: Hauff, Wilhelm (1970): Sämtliche Werke in drei Bänden. Band 2. München, S. 14-25. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000500442X. *** Im vorstehenden Textbeispiel, einem Kunstmärchen aus der Epoche der Romantik, erzählt ein auktorialer Erzähler (siehe Kapitel 7) von dem Kalifen Chasid und dem Großwesir Mansor, die sich mit Hilfe eines Zauberpulvers in Störche verwandelt werden. Chasid, Mansor und der Zauberer, von dem sie das Pulver gekauft haben, sind keine realen Menschen, sondern erdichtete (lat. fingere) Wesen, die den realen Menschen nachge- Figurenanalyse 16 bildet sind. Auch Napoleon im Drama Napoleon oder Die hundert Tage von Christian Dietrich Grabbe und Wallenstein im gleichnamigen Roman von Alfred Döblin sind nicht mit den gleichnamigen historischen Persönlichkeiten identisch, sondern sie sind ihnen nachempfunden. Sie sind literarische Figuren. DEFINITION – LITERARISCHE FIGUR „Eine literarische Figur ist eine körperlich manifeste, kommunizierende Bewusstseinsinstanz innerhalb eines literarischen Textes. Als ‚körperliche Manifestation‘ gilt hierbei jede äußere, u. U. durchaus veränderliche Erscheinungsform, die unter Rekurs auf Sinneseindrücke beschrieben werden kann. ‚Kommunikation‘ meint die Interaktion mit anderen Figuren oder sonstigen an der literarischen Kommunikation beteiligten Adressaten (z. B. Erzähler im Roman, Publikum im Drama), wobei Äußerungen in natürlicher Sprache, in der (menschlichen) Sprache des Nonverbalen und in allen Idiomen, die in eine dieser beiden Sprachen übersetzt werden können, als Interaktion anzusehen sind. Als ‚Bewusstseinsinstanz‘ seien schließlich alle denkenden und/oder fühlenden Wesen definiert, die ein Bewusstsein ihrer selbst besitzen und die deshalb ‚ich‘ sagen können oder […] könnten, ohne dass es sich hierbei allerdings um ein vollgültiges menschliches Selbstbewusstsein handeln muss.“ (Schneider 2008: 34) MERKEN SIE SICH – MERKMALE LITERARISCHER FIGUREN Literarische Figuren können verschiedene Gestalt haben. Außer der menschlichen Gestalt (der häufigste Fall) können sie – zumindest vorübergehend (siehe das obige Beispiel) – die Gestalt eines Tieres, eines Überirdischen oder eines Gegenstands haben. In allen Fällen sind diese Figuren jedoch vermenschlicht (anhtropomorphisiert). Ein klassisches Beispiel für die Vermenschlichung von literarischen Figuren sind die Fabeln, in denen oft Tiere mit menschlichen Eigenschaften auftreten. Im obigen Beispiel verhalten sich Chasid und Mansor auch nach der Verwandlung in Störche wie Menschen und machen sich lustig über die als „dumm“ bezeichneten „wirklichen“ Tiere (siehe die blau markierte Passage). In dem Moment, als sie von dem verwandelten Kalifen beobachtet und verstanden werden, werden aber auch die „wirklichen“ Störche menschenähnlich. Ihr Gespräch (die grün markierte Passage) ist dem Gespräch eines menschlichen, etwa bürgerlichen Ehe- oder Freundespaares nachgebildet. Für diesen einen Moment werden also die „wirklichen“ Störche, die bis dahin nur ein Requisit waren, zu literarischen Figuren. Literarische Figuren können ihre Gestalt gegebenenfalls wechseln. So verwandeln sich im obigen Beispiel der Kalif und sein Wesir in Vögel. Der Charakter einer Figur kann sich im Laufe der Handlung ebenfalls verändern. In Hauffs Märchen tritt Chasid aus Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 17 milder und leutseliger, aber auch kalt kalkulierender Herrscher auf. Wenn ihm Prinzessin Lusa, die in eine Eule verwandelt wurde, nur unter der Bedingung eines Heiratsantrags helfen will, lehnt Chasid diesen „dummen Handel“ ab, weil er an der Schönheit der Prinzessin zweifelt. Da er aber die Hilfe der Eule braucht, zwingt er seinen Wesir, ihr den Heiratsantrag zu machen. Er verhält sich wie ein Tyrann, der seine Umgebung rücksichtslos instrumentalisiert, geht aber im entscheidenden Moment in sich und befreit sich von seinem Hochmut. Dieser für Märchen typische Reifungsprozess ist das Hauptthema der sog. Entwicklungs- und Bildungsromane und wird auch in anderen Genres thematisiert. Figuren, die oft ihre Gestalt wechseln und/oder ihren Charakter verändern („in sich gehen“), werden als dynamisch bezeichnet. Figuren, die keine oder nur geringe Veränderungen durchmachen, werden als statisch bezeichnet. Je nachdem, wie stark sie in die Interaktion involviert und wie wichtig sie für den Handlungsverlauf sind, werden literarische Figuren in Hauptfiguren und Nebenfiguren gegliedert. In Hauffs Märchen sind der Kalif und sein Wesir die Hauptfiguren. Chasid ist dabei wichtiger als Mansor – er ist die Titelfigur. Dem entspricht auch die Tatsache, dass er nicht so schematisch (nur „gut“ oder nur „böse“) wie die kleineren Figuren gezeichnet ist und dass sich sein Charakter im Laufe der Handlung entwickelt. Der Charakter der Hauptfiguren ist in der Regel individueller und widersprüchlicher gezeichnet als der Charakter der Nebenfiguren, die manchmal nur noch als Typen, d. h. standardisierte Wesen mit nur wenigen Eigenschaften auftreten. In einigen Genres wie z. B. dem barocken Trauerspiel oder der sächsischen Typenkomödie sind dagegen alle Figuren stark typisiert. In der Komödie Die Pietisterey im Fischbein-Rocke von Luise Adelgunde Victorie Gottsched, die ein hervorragendes Beispiel für die sächsische Typenkomödie ist, sind die Figuren keine Individuen, sondern karikaturhafte Verkörperungen bestimmter Laster bzw. Wesenszüge, die statisch angelegt sind und keine Entwicklung durchmachen. Bereits die Namen dieser Figuren deuten auf den einen Wesenszug hin, auf den sie festgelegt sind: Liebmann, Glaubeleicht, Muckersdorff, Scheinfromm, Wackermann. Es handelt sich um sog. sprechende Namen. Diese sind wichtig für die Figurenanalyse, weil sie die Charakterisierung der Figuren erleichtern. Andere Merkmale, aufgrund derer die Figuren leichter charakterisiert werden können, sind: eine spezifische Sprechweise oder Gestik, eine spezifische Kostümierung und Requisiten, die die Qualität eines persönlichen Attributs ha- ben. Gegenstand der Figurenanalyse sind nicht nur die Figuren selbst, sondern auch der soziale Raum, in dem sie angesiedelt sind. Hierfür ist die Kenntnis der realen sozialen Strukturen und deren historischer Entwicklung dringend notwendig. Der soziale Raum in literarischen Texten ist in der Regel der gesellschaftlichen Ordnung nachgestaltet, von der der Autor umgeben war oder die er aus der Fachliteratur bzw. aus der Überlieferung kannte. In Hauffs Märchen herrscht unter den Figuren die gleiche Hierarchie wie unter den Einwohnern einer mittelalterlichen orientalischen Monarchie. Die Unterwürfigkeit, mit der der Wesir dem Kalifen begegnet (siehe die gelb markierten Passagen), ist den Umgangsformen in der realen (nicht nur arabischen) Welt entnommen. Selbst in den Märchen und Fabeln, in denen Tiere mit menschlichen Eigenschaften auftreten, sowie in Figurenanalyse 18 der Science-Fiction-Literatur, die das Leben in ferner Zukunft oder auf fremden Planeten schildert, ist der soziale Raum der gesellschaftlichen Ordnung aus der Gegenwart des Autors nachmodelliert. Einige Autoren, allen voran die Realisten und Naturalisten sowie – in Deutschland – die Repräsentanten der neusachlichen Literatur, waren sogar bestrebt, mit ihren Texten ein möglichst genaues Abbild der realen Gesellschaft zu liefern. Der Wechsel zwischen den sozialen Schichten (sog. soziale Mobilität) ist folglich das wichtigste Thema ihrer Romane und Dramen, spielt aber auch in anderen Texten eine nicht zu unterschätzende Rolle und sollte bei der Figurenanalyse mit untersucht werden. Die Freiheit des Autors bei der Konstruktion des sozialen Raums kann durch die sog. Ständeklausel eingeschränkt werden. Diese ist eine poetologische Vorschrift, die von den Autoren des Barock und der von der französischen Klassik beeinflussten Aufklärung angewandt wurde. Die Ständeklausel schreibt vor, welche sozialen Gruppen (sog. Stände) in welchen Genres erscheinen dürfen (Aristokraten und mythologische Figuren in der Tragödie, Bürger bzw. Träger der bürgerlichen Moral in der Komödie). Seit der Einführung des sog. bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland (Mitte des 18. Jahrhunderts) ist die Ständeklausel in der deutschsprachigen Literatur obsolet. ZUSAMMENFASSUNG Literarische Figuren sind erdichtete Wesen, die sich ihrer selbst bewusst sind, sich gegenseitig wahrnehmen und untereinander interagieren. Sie können verschiedene Gestalten annehmen, sind aber immer vermenschlicht. Der soziale Raum, in dem sie sich bewegen, ist der realen menschlichen Gesellschaftsordnung nachgebildet. Je nach ihrer Wichtigkeit für den Handlungsverlauf werden sie in Hauptfiguren und Nebenfiguren gegliedert; je nach ihrer Wandlungs- und Entwicklungsfähigkeit werden sie in dynamische und statische Figuren gegliedert. Sie können individuell durchgezeichnet oder entindividualisiert, typisiert sein. Ihre soziale Mobilität ist für den Handlungsverlauf oft von eminenter Bedeutung und sollte bei der Figurenanalyse ebenfalls untersucht werden. SEKUNDÄRLITERATUR Das Kapitel arbeitet mit folgender Primärquelle:  Hauff, Wilhelm (1970): Sämtliche Werke in drei Bänden. Band 2. München, S. 14- 25. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000500442X. Das Kapitel arbeitet mit folgender Sekundärliteratur:  Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart; Weimar. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 19  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld. Inhaltsanalyse 20 3 INHALTSANALYSE EINLEITEND Das Kapitel beschäftigt sich mit dem Inhalt literarischer Texte und den vier Ebenen, auf denen dieser Inhalt untersucht werden kann. Der Fokus liegt auf der Terminologie, die bei der Inhaltsanalyse verwendet wird. Die theoretischen Begriffe werden anhand eines authentischen Textes erläutert. Der Studierende eignet sich das Know-how für die Inhaltsanalyse an. ZIELE Das Kapitel will:  die Begriffe „Thema“, „Stoff“, „Motiv“ und „Plot“ definieren,  die einzelnen Schritte zur Inhaltanalyse beschreiben. SCHLÜSSELWÖRTER Thema, Stoff, Motiv, Plot Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 21 FALLSTUDIE – AUTHENTISCHER TEXT Jacob und Wilhelm Grimm: Schneewittchen (Auszug) Es war einmal mitten im Winder, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich »hätt ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.« Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarzhaarig wie Ebenholz, und ward darum das Sneewittchen (Schneeweißchen) genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin. Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig, und konnte nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« so antwortete der Spiegel »Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.« Da war sie zufrieden, denn sie wußte, daß der Spiegel die Wahrheit sagte. Sneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön wie der klare Tag, und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« so antwortete er »Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Sneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.« Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Sneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so haßte sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer hö- Inhaltsanalyse 22 her, daß sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. […] »Sneewittchen soll sterben,« rief sie, »und wenn es mein eignes Leben kostet.« Darauf ging sie in eine ganz verborgene einsame Kammer, wo niemand hinkam, und machte da einen giftigen giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, daß jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam, aber wer ein Stückchen davon aß, der mußte sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an, Sneewittchen streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach »ich darf keinen Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mirs verboten.« »Mir auch recht,« antwortete die Bäuerin, »meine Äpfel will ich schon los werden. Da, einen will ich dir schenken.« »Nein,« sprach Sneewittchen, »ich darf nichts annehmen.« »Fürchtest du dich vor Gift?« sprach die Alte, »siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iß du, den weißen will ich essen.« Der Apfel war aber so künstlich gemacht, daß der rote Backen allein vergiftet war. Sneewittchen lusterte den schönen Apfel an, und als es sah, daß die Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger widerstehen, streckte die Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut und sprach »weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz! diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken.« Quelle: Grimm, Jacob und Wilhelm (1977): Kinder- und Hausmärchen. München, S. 297-308. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004904141. *** Das vorstehende Textbeispiel, das Märchen Schneewittchen, ist einer der berühmtesten Märchenstoffe. Die hier zitierte Fassung der Brüder Grimm ist nicht die einzige. Wie bei den Märchenstoffen üblich, existiert Schneewittchen in mehreren Fassungen. Zwischen den einzelnen Fassungen gibt es natürlich Unterschiede, aber einige inhaltliche Merkmale bleiben bestehen: das Thema, in dem der ideelle Inhalt des gesamten Märchens zusammengefasst ist, und die Motive, aus deren Kombination sich der Stoff zusammensetzt. Bei der Inhaltsanalyse müssen alle diese Phänomene untersucht werden. Man geht dabei vom Allgemeinen zum Besonderen, also vom Thema über den Stoff bis hin zum Motiv. Am Ende der Inhaltsanalyse steht die Darstellung des Plots, also des Handlungsverlaufs in einer konkreten Geschichte. Die Inhaltsanalyse erfolgt also auf vier Ebenen: 1) auf der Ebene des Themas, 2) auf der Ebene des Stoffs, 3) auf der Ebene des Motivs, 4) auf der Ebene des Plots. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 23 DEFINITION – MOTIV, STOFF UND THEMA „Die dt. Terminologie unterscheidet zwischen M[otiv], Stoff und Thema, wobei das M[otiv] die kleinste semantische Einheit bildet, der Stoff sich aus einer Kombination von M[otiv]en zusammensetzt und das Thema die abstrahierte Grundidee eines Textes darstellt.“ (Nünning 2004: 474) MERKEN SIE SICH – VIER EBENEN DER INHALTSANALYSE Die erste, allgemeinste Ebene, auf der die Inhaltsanalyse erfolgt, ist die Ebene des Themas. Das Thema ist die „abstrahierte Grundidee eines Textes“ (siehe die Definition) und wird „mit allgemeinen Begriffen wie ‚Liebe‘, ‚Herrschaft‘, ‚Tod‘, ‚Freiheit‘, ‚Krankheit‘, ‚Verbrechen‘ oder ‚Ehre‘ bezeichnet“ (Schneider 2008: 46). Im obigen Textbeispiel ist der Kampf des Guten gegen das Böse das Thema. Es handelt sich um ein typisches Märchenthema, das auch in anderen Märchen anzutreffen ist. Weitere Themen sind die Schönheit (der Konflikt zwischen Schneewittchen und der Königin entsteht aus dem Neid, den Letztere gegen die schöne Stieftochter hegt) und die Liebe (der Prinz verliebt sich in das scheinbar tote Mädchen und lässt dessen Sarg in sein Schloss tragen, wobei es zu dem rettenden Stolpern des Knechts kommt). Alle diese Themen – der Kampf Gut gegen Böse, die Schönheit, die Liebe – sind in der Literatur sehr beliebt und kommen in zahlreichen Texten aus verschiedenen Epochen vor. Man kann sie deshalb als „die ewigen Themen der Literatur“ (Schneider 2008: 46) bezeichnen. Der erste Schritt zur Inhaltsanalyse besteht also in der Bestimmung des Themas bzw. der Themen, die von einem Text behandelt werden. Wie ein bestimmtes Thema in verschiedenen Texten aus verschiedenen Epochen und Ländern behandelt wird, kann ebenfalls Gegenstand einer Analyse werden. Die zweite Ebene, auf der der Inhalt eines Textes untersucht wird, ist die Ebene des Stoffs. „Stoffe sind überlieferte komplexe Handlungsgefüge, also Zusammenstellungen bestimmter Geschehnisabfolgen, die schon mehrfach zum Gegenstand künstlerischer Darstellung geworden sind und die deshalb eine gewisse Eigengesetzlichkeit entwickelt haben. Dazu gehört beispielsweise das Schicksal von Tristan und Isolde (Chretien de Troyes, Gottfried von Straßburg, Richard Wagner u. a.), das Leben Fausts (Christopher Marlowe, Maximilian Klinger, Goethe, Thomas Mann u. a.) oder auch die Geschichte Don Juans (Tirso de Molina, Moliere, Da Ponte / Mozart, E. T. A. Hoffmann u. a.).“ (Schneider 2008) Vereinfacht gesagt ist der Stoff eine konkrete Geschichte mit einer meist titelgebenden Hauptfigur, die schon oft bearbeitet wurde, und zwar von verschiedenen Autoren aus verschiedenen Epochen. Das trifft auch auf das obige Beispiel zu: Die Geschichte Schneewittchens ist ein Stoff, der von zahlreichen Schriftstellern, bildenden Künstlern und Filmemachern bearbeitet wurde. Das Märchen liegt in mehreren Fassungen vor (außer der oben zitierten Fassung der Brüder Grimm gibt es die Fassungen von Lud- Inhaltsanalyse 24 wig Bechstein und Johann Karl August Musäus) und wurde von zahlreichen – auch nichtdeutschen – Autoren rezipiert und fortgeschrieben. Es gibt mehrere SchneewittchenFilme, -Opern, -Ballette und -Lieder. Alle diese Bearbeitungen, die in Details voneinander abweichen, enthalten die gleichen Motive, die als zentrale Bestandteile des Schneewittchen-Stoffs gelten. Der zweite Schritt bei der Untersuchung eines Textes besteht also in der Bestimmung des Stoffs und der Einordnung des Textes in die Bearbeitungstradition dieses Stoffs. Die dritte Ebene, auf der die Inhaltsanalyse erfolgt, ist die Ebene des Motivs. Motive sind die „kleinsten semantischen Einheiten“ (siehe die Definition), aus deren Kombination sich der Stoff zusammensetzt. Jeder Stoff hat sozusagen zentrale Motive, die für ihn charakteristisch sind und in keiner Neubearbeitung fehlen dürfen. Im Schneewittchen sind es der magische Spiegel, der vergiftete Apfel, die sieben Zwerge und der Todesschlaf (den es jedoch auch im Dornröschen gibt). Diese Motive können zwar in verschiedenen Bearbeitungen leicht variieren (in einigen Fassungen findet Schneewittchen nicht bei sieben Zwergen, sondern bei sieben Räubern, Riesen oder Rittern Unterschlupf), müssen aber erkennbar bleiben. Der dritte Schritt zur Inhaltsanalyse besteht also in der Suche nach Motiven, die für den jeweiligen Stoff charakteristisch sind, und in der Beschreibung der Art und Weise, wie der Autor des Textes mit diesen Motiven umgeht. Die vierte Ebene, auf der der Inhalt eines Textes untersucht wird, ist die Ebene des Plots. „Das englische Wort ‚plot‘ hat im Deutschen keine direkte Entsprechung; die Begriffe ‚Handlung‘ oder gar ‚Inhalt‘ sind unpräzise Ersatzformen. Mit dem Wort ‚plot‘ bezeichnen wir den konkreten Handlungsverlauf in einem einzelnen Text. Wir können also z. B. nach dem plot von Emilia Galotti, Die Räuber oder Madame Bovary fragen. Die Antwort wäre dann eine zusammenfassende Darstellung des Handlungsverlaufes, wobei zunächst einmal betont werden muss, dass eine solche Zusammenfassung immer und grundsätzlich im Präsens zu erfolgen hat (zur Markierung der Vorzeitigkeit wird das einfache Perfekt verwendet.“ (Schneider 2008: 50) Der Plot ist also – anders als Thema, Stoff und Motiv – an einen einzigen Text gebunden und bei seiner Darstellung müssen gewisse Regeln eingehalten werden: außer dem erwähnten Präsens sind es die Kürze (keine Zitate aus dem Text) und die Präzision (man sollte aus der Darstellung des Plots erfahren, wann und wo die Handlung spielt, wer die wichtigsten Figuren sind und woraus sich der zentrale Konflikt ergibt). Der Plot von Schneewittchen lässt sich folgendermaßen darstellen: Die Handlung des Märchens Schneewittchen spielt in einer unbestimmten vergangenen Zeit in einem Märchenland. Hauptfigur ist eine Königstochter, die bald nach der Geburt ihre Mutter verliert. Ihr Vater heiratet wieder, aber die neue Königin ist hochmütig und neidisch. Sie hat einen magischen Spiegel, der ihr jeden Tag bestätigen muss, dass sie die schönste Frau im Königreich ist. Als ihr der Spiegel eines Tages sagt, dass Schneewittchen schöner als sie ist, wird die Königin zornig. Sie entscheidet sich, die Stieftochter töten zu lassen. Der Jäger, der sie im Wald töten soll, erbarmt sich aber des Mädchens und lässt es laufen. Schneewittchen findet Unterschlupf bei den sieben Zwer- Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 25 gen, die in einem Wald über den Bergen wohnen. Die Königin erfährt aber von ihrem Spiegel, dass ihre Stieftochter noch am Leben ist, und will sie nun mit der eigenen Hand töten. Zwei Versuche schlagen fehl, aber der dritte ist erfolgreich: die Königin, die sich als eine Bäuerin ausgibt, vergiftet Schneewittchen mit einem Apfel. Die Zwerge legen das Mädchen in einen gläsernen Sarg und halten an ihm jeden Tag Wache. Eines Tages kommt ein Prinz an dem Sarg vorbei und verliebt sich in das Mädchen, dass wie eine Schlafende aussieht. Er erbittet sich von den Zwergen den Sarg und nimmt ihn mit nach Hause. Einer der Knechte stolpert und lässt den Sarg zu Boden fallen. Das giftige Apfelstück springt Schneewittchen aus dem Hals und das Mädchen kommt wieder zu sich. Der Prinz heiratet Schneewittchen und die böse Königin wird mit dem Tod bestraft. Bei der Inhaltsanalyse wird auch die Zeit- und Raumkonzeption untersucht. „Unter der Zeitkonzeption eines Textes verstehen wir das textspezifische Prinzip der Aneinanderreihung von einzelnen Handlungsabschnitten.“ (Schneider 2008: 52) Die Geschichte wird entweder chronologisch (d. h. in Übereinstimmung mit der natürlichen Abfolge der Geschehnisse) oder anachronisch (d. h. unter Verletzung der natürlichen Abfolge der Geschehnisse) bzw. achronisch (d. h. ohne erkennbare natürliche Abfolge der Geschehnisse) erzählt. Im obigen Beispiel gibt es eine chronologische Zeitkonzeption: Das Märchen beginnt mit der Geburt der Hauptfigur, schildert den Konflikt der Heranwachsenden mit der Stiefmutter, die Flucht in den Wald und die von der Stiefmutter verübten Mordanschläge, und endet mit der glücklichen Rettung und Hochzeit mit dem Retter. Unter der Raumkonzeption versteht man die Situierung der Handlung an einem bestimmten Schauplatz oder die Verteilung der Geschehnisse auf mehrere Schauplätze. Im Schneewittchen gibt es drei Schauplätze: das Schloss der Eltern, das Haus der Zwerge und der Berg, auf dem Schneewittchen von dem Prinzen gefunden wird. ZUSAMMENFASSUNG Die Inhaltsanalyse erfolgt auf vier Ebenen: auf der Ebene des Themas, auf der Ebene des Stoffs, auf der Ebene des Motivs und auf der Ebene des Plots. Man verfährt dabei deduktiv und geht vom Allgemeinen zum Besonderen, d. h. vom Thema (die Grundidee des Textes) über den Stoff (eine literarisch bearbeitete Geschichte mit einer meist titelgebenden Hauptfigur) bis hin zum Motiv (die kleinste semantische Einheit, die als Baustein für den Stoff dient). Am Ende der Inhaltsanalyse steht die Darstellung des Plots, also des einzigartigen Handlungsverlaufs in einer konkreten Geschichte. Auch die Zeit- und Raumstruktur eines Textes ist Gegenstand der Inhaltsanalyse. Dabei wird untersicht, ob die Geschehnisse in Übereinstimmung der natürlichen Abfolge erzählt bzw. dargestellt werden, und an welchen Schauplätzen die Handlung situiert ist. Inhaltsanalyse 26 SEKUNDÄRLITERATUR Das Kapitel arbeitet mit folgender Primärquelle:  Grimm, Jacob und Wilhelm (1977): Kinder- und Hausmärchen. München, S. 297- 308. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004904141. Das Kapitel arbeitet mit folgender Sekundärliteratur:  Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart; Weimar.  Nünning, Ansgar (Hg.) (2004): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar.  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 27 4 ANALYSE DES VERSBAUS EINLEITEND Das Kapitel beschäftigt sich mit dem Versbau und der Metrik, also der Disziplin, die den Versbau untersucht. Der Fokus liegt auf der Terminologie, die bei der metrischen Analyse verwendet wird, und dem formalen Aufbau des Verses. Die theoretischen Begriffe werden anhand eines authentischen Textes erläutert. Der Studierende lernt auf diese Weise die Verse analytisch zu lesen und eignet sich das Know-how für die Analyse dieser Verse an. ZIELE Das Kapitel will:  den Begriff „Metrik“ definieren,  die wichtigsten Termini erläutern, deren Kenntnis für die metrische Analyse notwendig ist,  den formalen Aufbau des Verses beschreiben. SCHLÜSSELWÖRTER Vers, Versbau, Metrik Analyse des Versbaus 28 MERKEN SIE SICH – METRIK Die Metrik (auch Verslehre genannt) ist eine literaturwissenschaftliche Disziplin, die den Versbau untersucht. Der Vers ist die Zeile eines Gedichts. Er ist oft metrisch geordnet, muss es aber nicht sein. In den metrisch geordneten Versen wechseln die betonten Silben (sog. Hebungen) und die unbetonten Silben (sog. Senkungen) regelmäßig ab. In den metrisch ungeordneten Versen ist dies nicht der Fall und in der Folge von betonten und unbetonten Silben lässt sich keine Regelmäßigkeit erkennen. Die metrische Analyse besteht folglich in der Feststellung, wie viele Silben sich im Vers befinden, welche von ihnen betont sind und nach welchem Schema die betonten und unbetonten Silben auf den Vers verteilt sind. Vorneweg muss gesagt werden, dass es sich bei den metrisch relevanten Silben ausschließlich um Sprechsilben (phonologische Silben) handelt. Das sind Silben, die sich aus der natürlichen Aussprache eines Wortes ergeben und die ausschließlich nach lautlichen Kriterien getrennt werden. In der Regel besteht eine Sprechsilbe aus einem artikulierten (tatsächlich ausgesprochenen) Vokal bzw. Diphtong, der ggf. von einem oder mehreren Konsonanten begleitet wird. Beispiele: Silbe = Sil+be = ein zweisilbiges Wort, jede Silbe enthält einen artikulierten Vokal Literatur = Li+te+ra+tur = ein viersilbiges Wort, jede Silbe enthält einen artikulierten Vokal Maus = ein einsilbiges Wort, die einzige Silbe enthält einen Diphtong Heer = ein einsilbiges Wort, die einzige Silbe enthält zwar zwei Vokale, aber nur einer von ihnen wird tatsächlich ausgesprochen (aus zwei e wird ein langes artikuliertes e) Liebe = Lie+be = ein zweisilbiges Wort, die erste Silbe enthält zwar zwei Vokale, aber nur einer von ihnen wird tatsächlich ausgesprochen (aus ie wird ein langes artikuliertes i) FALLSTUDIE – METRISCHE ANALYSE IN SECHS SCHRITTEN Georg Heym: Der Gott der Stadt (4. Strophe) Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. Die Stürme flattern, die wie Geier schauen Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt. (Heym 1964: 192) Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 29 Der erste Schritt zur metrischen Analyse besteht darin, dass man alle Silben in der Zeile zählt und mit einem x markiert. Das Wet ter schwelt in sei nen Au gen brau en x x x x x x x x x x x Der dunk le A bend wird in Nacht be täubt x x x x x x x x x x Die Stür me flat tern die wie Gei er schau en x x x x x x x x x x x Von sei nem Haupt haar das im Zor ne sträubt x x x x x x x x x x Im vorstehenden Beispieltext sind die Verse gleich lang. Die ungeraden Verse bestehen aus je 11 Silben, die geraden aus je 10 Silben. Man beachte, dass die Anzahl der Silben der Anzahl der artikulierten Vokale bzw. Diphtonge entspricht. Der zweite Schritt besteht darin, dass man feststellt, welche von den Silben betont sind. In der deutschen Sprache liegt die Betonung an der ersten Silbe des Wortes. Eine Ausnahme sind Namen, Fremdwörter, Abkürzungen und alle deutschen Wörter mit einer unbetonten Vorsilbe (be-, ge-, zer-, ver-, ent-, emp- u. a.). Bei den einsilbigen Wörtern hängt die Betonung oft vom Kontext ab. Die Silben, an denen die Betonung liegt, markiert man mit einem ´ (sog. Akzent). Das Wet ter schwelt in sei nen Au gen brau en x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x Der dunk le A bend wird in Nacht be täubt x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ Die Stür me flat tern die wie Gei er schau en x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x Von sei nem Haupt haar das im Zor ne sträubt x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ In Heyms Gedicht enthält jeder Vers 5 betonte Silben, die zusätzlich gelb markiert sind. Da die betonten Silben auch Hebungen genannt werden, kann man sagen, dass alle Verse in der vierten Strophe von Heyms Gedicht fünfhebig sind. Man kann diese Verse als Fünfheber bezeichnen. Der dritte Schritt besteht darin, dass man versucht, in der Folge von betonten und unbetonten Silben eine Regelmäßigkeit (eine sich wiederholende Kombination von Silben) zu finden. Das Wet ter schwelt in sei nen Au gen brau en x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x Der dunk le A bend wird in Nacht be täubt x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ Die Stür me flat tern die wie Gei er schau en x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x Analyse des Versbaus 30 Von sei nem Haupt haar das im Zor ne sträubt x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ In Heyms Gedicht gibt es eine Regelmäßigkeit – in jeder Zeile folgt eine betonte Silbe auf eine unbetonte. Man kann also sagen, dass die Verse in Heyms Gedicht metrisch geordnet sind. Das Metrum jedes Verses (auch Versmaß genannt) besteht aus einer Kombination von unbetonter und betonter Silbe, die sich fünfmal wiederholt (siehe die abwechselnd grün und gelb markierten Silbenkombinationen). Diese Silbenkombination heißt Jambus. Da sie sich fünfmal wiederholt, spricht man von einem fünfhebigen Jambus oder einem jambischen Fünfheber. Die Kombinationen von betonten und unbetonten Silben, die sich in den metrisch geordneten Versen wiederholen und aus denen sich das Metrum ergibt, werden Versfüße genannt. Außer dem bereits erwähnten Jambus (eine Kombination von unbetonter und betonter Silbe = xx´) sind für die deutschsprachige Literatur folgende drei Versfüße relevant: der Trochäus (eine Kombination von betonter und unbetonter Silbe = x´x), der Daktylus (eine Kombination von betonter und zwei unbetonten Silben = x´xx) und der Anapäst (eine Kombination von zwei unbetonten und einer betonten Silbe = xxx´). Der vierte Schritt besteht darin, dass man sich das Versende anschaut, um die sog. Kadenz festzustellen. Wenn die letzte Silbe im Vers betont ist, spricht man über das männliche Versende (auch männliche bzw. stumpfe Kadenz genannt). Wenn die letzte Silbe im Vers unbetont ist, spricht man über das weibliche Versende (auch weibliche bzw. klingende Kadenz genannt). Das Wet ter schwelt in sei nen Au gen brau en x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x Der dunk le A bend wird in Nacht be täubt x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ Die Stür me flat tern die wie Gei er schau en x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x Von sei nem Haupt haar das im Zor ne sträubt x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ In Heyms Gedicht gibt es sowohl männliche als auch weibliche Versenden. Die geraden Verse schließen mit einer betonten Silbe (siehe die gelb markierte Silbe), haben also eine männliche bzw. stumpfe Kadenz. Die ungeraden Verse schließen mit einer unbetonten Silbe (siehe die grün markierte Silbe), haben also eine weibliche bzw. klingende Ka- denz. Der fünfte Schritt besteht in der Feststellung des Reims. Der Reim ist eine Klanggleichheit (sog. reiner Reim) oder eine – mehr oder weniger große – Klangähnlichkeit (sog. unreiner Reim). Er kann am Anfang, im Inneren oder am Ende des Verses vorkommen. Wenn sich die Anfangswörter mehrerer Verse reimen, spricht man von einem Anfangsreim. Wenn sich zwei Wörter innerhalb eines einzigen Verses reimen, spricht man von einem Binnenreim. Wenn sich die Endwörter mehrerer Verse reimen, spricht man von einem Endreim. (Bei längeren Wörtern reicht es aus, wenn sich die Wörter vom Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 31 letzten betonten Vokal an reimen.) Wichtig ist, dass man sich bei der Feststellung, ob ein Reim vorliegt, allein am Klangbild, nicht am Schriftbild orientiert. Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. a Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. b Die Stürme flattern, die wie Geier schauen a Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt. b In Heyms Gedicht reimen sich die Endwörter (im ersten und zweiten Vers nur die Teile der Endwörter), und zwar im ersten und dritten sowie im zweiten und vierten Vers (siehe die grün und gelb markierten Wörter). Man sieht hier also einen Endreim. Da die Klanggestalt aller sich reimenden Wörter gleich ist, handelt es sich um einen reinen Endreim. Die Endwörter, die den Reim bilden, sind nach einem bestimmten Schema (sog. Reimschema) auf die Verse verteilt. Um dieses Schema zu markieren, schreibt man hinter jeden Vers einen kleinen Buchstaben. Die Verse, die sich reimen, werden dabei mit dem gleichen Buchstaben markiert. Der erste und dritte Vers werden folglich mit einem a, der zweite und vierte Vers werden mit einem b markiert. Das Schema ist abab und wird als Kreuzreim bezeichnet. Andere bekannte Reimschemas sind aabb (Paarreim), abba (umarmender Reim), abc – abc (verschränkter Reim), aab – ccb (Schweifreim) und aaa… (Haufenreim). Kreuzreim, Paarreim, umarmender Reim, verschränkter Reim, Schweifreim und Haufenreim sind sog. Reimarten. Der sechste Schritt besteht in der Feststellung, ob der analysierte Vers einen eigenen Namen hat. Je nach dem Typ und der Anzahl der Versfüße, dem Reim und der Kadenz lassen sich verschiedene Versformen bestimmen. Zu den wichtigsten gehören der Blankvers (ein reimloser fünfhebiger jambischer Vers), der Alexandriner (ein gereimter sechshebiger jambischer Vers) und der Hexameter (ein reimloser sechshebiger daktylischer Vers, wobei der letzte Daktylus immer und die ersten vier Daktylen eventuell durch einen Trochäus ersetzt sind). In den folgenden Textbeispielen (Auszüge aus Lyrik und Epik) sind die Verse farbig markiert: Blankvers rosa, Alexandriner violett, Hexameter blau. Die betonten Silben sind fett markiert. Friedrich Schiller: Das verschleierte Bild zu Sais (2. Strophe) In dem sie einst so sprachen, standen sie In einer einsamen Rotonde still, Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert Blickt er den Führer an und spricht: »Was ists, Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?« »Die Wahrheit«, ist die Antwort. – »Wie?« ruft jener, »Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese Gerade ist es, die man mir verhüllt?« (Schiller 1962: 224) Analyse des Versbaus 32 Paul Fleming: Abba, mein Vater Ach, Vater, kan es sein, so schone deines Sohnes! wo nicht, so sei es nur! Mir ziemt zu folgen dir. Mensch, wenn du hörest das, wie der des höchsten Thrones alleine weiser Rat so kläglich weinet hier aus Ängsten seiner Qual, so denke, was für Schmerzen du soltest stehen aus von wegen deiner Schuld! Lern' auch die Betkunst hier und sprich, wie er, von Herzen: Kans sein, so tu's! wo nicht, so leid' ich mit Geduld. (Fleming 1865: 222) Johann Wolfgang Goethe: Reineke Fuchs (Anfang des ersten Gesangs) Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es grünten und blühten Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel; Jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen, Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde. (Goethe 1965: 443) Heyms Gedicht ist weder in Blankversen noch in Alexandrinern oder Hexametern verfasst. Es besteht aus gereimten fünfhebigen jambischen Versen, den sog. jambischen Fünfhebern, die eine in der deutschsprachigen Literatur häufig vorkommende Versform sind. ZUSAMMENFASSUNG Die literaturwissenschaftliche Disziplin, die den Versbau untersucht, heißt Metrik. Der Vers kann metrisch geordnet sein, d. h. er besteht aus einer bestimmten Anzahl von betonten und unbetonten Silben, die sich regelmäßig abwechseln. Ihre Kombinationen, die sich im Vers mehrmals wiederholen, werden Versfüße genannt und bilden das Versmaß (das Metrum des Verses). Die Aufgabe der metrischen Analyse besteht darin, die Versfüße und das Versmaß zu beschreiben. Außerdem werden auch Kadenzen und Reime untersucht und die Versform wird bestimmt. SEKUNDÄRLITERATUR Das Kapitel arbeitet mit folgenden Primärquellen: Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 33  Fleming, Paul (1865): Deutsche Gedichte. Band 1 und 2. Stuttgart, S. 222. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000476448X.  Goethe, Johann Wolfgang (1965): Berliner Ausgabe. Poetische Werke. Band 3, Berlin, S. 443-452. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004849469.  Heym, Georg (1964): Dichtungen und Schriften. Band 1. Hamburg / München, S. 190-193. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005057736.  Schiller, Friedrich (1962): Sämtliche Werke. Band 1. München, S. 224-226, 239- 240. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005595541. Das Kapitel arbeitet mit folgender Sekundärliteratur:  Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart; Weimar.  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld. Analyse der rhetorischen Stilmittel 34 5 ANALYSE DER RHETORISCHEN STILMITTEL EINLEITEND Das Kapitel beschäftigt sich mit den rhetorischen Stilmitteln und der Stilistik, also der Disziplin, die den Gebrauch von rhetorischen Stilmitteln untersucht. Der Fokus liegt auf der Terminologie, die bei der stilistischen Analyse verwendet wird, und dem formalen Aufbau eines Textes. Die theoretischen Begriffe werden anhand authentischer Texte erläutert. Der Studierende lernt auf diese Weise die Texte analytisch zu lesen und eignet sich das Know-how für die Analyse dieser Texte an. ZIELE Das Kapitel will:  die Begriffe „Rhetorik“, „rhetorische Stilmittel“ und „Stilistik“ definieren,  die wichtigsten Termini erläutern, deren Kenntnis für die stilistische Analyse notwendig ist,  den Gebrauch der rhetorischen Stilmittel beschreiben. SCHLÜSSELWÖRTER Rhetorik, rhetorische Stilmittel, Stilistik Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 35 FALLSTUDIE – AUTHENTISCHER TEXT Andreas Gryphius: Threnen des Vatterlandes / Anno 1636 Wir sindt doch nuhmer gantz/ ja mehr den gantz verheret! Der frechen völcker schaar/ die rasende posaun Das vom blutt fette schwerdt/ die donnernde Carthaun Hatt aller schweis/ vnd fleis/ vnd vorraht auff gezehret. Die türme stehn in glutt/ die Kirch ist vmbgekehret. Das Rahthaus ligt im graus/ die starcken sind zerhawn. Die Jungfrawn sindt geschändt/ vnd wo wir hin nur schawn Ist fewer/ pest/ vnd todt der hertz vndt geist durchfehret. Hier durch die schantz vnd Stadt/ rint alzeit frisches blutt. Dreymall sindt schon sechs jahr als vnser ströme flutt Von so viel leichen schwer/ sich langsam fortgedrungen. Doch schweig ich noch von dem was ärger als der todt. Was grimmer den die pest/ vndt glutt vndt hungers noth Das nun der Selen schatz/ so vielen abgezwungen. Quelle: Gryphius, Andreas (1963): Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 1. Tübingen, S. 48. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000491788X. *** Das vorstehende Textbeispiel, das Gedicht „Tränen des Vaterlandes“ von Andreas Gryphius, kann als klassischer literarischer Text bezeichnet werden. Klassisch in dem Sinne, dass es nie Zweifel an seiner Literarizität gab. Selbst ein Laie würde dieses Gedicht sofort als Literatur bezeichnen. Das liegt nicht so sehr an seinem Inhalt (die von ihm vermittelten Informationen – die Beschreibung der Schrecken des Krieges – könnten auch von einem Zeitungstext vermittelt werden), sondern viel mehr an seinem formalen Aufbau (ein Gedicht in metrisch geordneten Versen, die in modernisierenden Ausgaben auf vier regelmäßig gebaute Strophen verteilt sind) und an seiner besonderen Sprachgestalt. Das Gedicht von Gryphius ist ein gutes Beispiel für die sog. geschmückte Rede. Diese zeichnet sich durch ungewöhnliche, artifiziell wirkende, in den nicht-literarischen Texten nur selten anzutreffende Wörter, Wortverbindungen und Satzkonstruktionen aus, die unter dem Begriff „Redeschmuck“ zusammengefasst werden. Die geschmückte Rede ist ein wichtiges Kennzeichen der Literatursprache, die die ästhetische Funktion der kommunikativen vorzieht und nicht bloß informativ, sondern vor allem „schön“, „beeindruckend“ und „überzeugend“ sein will. Der Redeschmuck besteht aus den rhetorischen Stilmitteln (auch rhetorische Figuren genannt), deren Gebrauch von der Stilistik analysiert wird. Die stilistische Analyse bewegt sich dabei auf fünf Ebenen: 1. auf der Ebene der Laute und Silben, 2. auf der Ebene des Wortes, Analyse der rhetorischen Stilmittel 36 3. auf der Ebene des Satzes, 4. auf der Ebene des Textes, 5. auf der Ebene des Textkorpus. DEFINITION – RHETORIK UND STILISTIK „Rhetorik ist die Lehre vom öffentlichen Sprechen mit der Absicht, zu überzeugen oder zu überreden. Diese Rede muss richtig und klar formuliert und dem Hörer, dem Redegegenstand und der Kommunikationssituation angemessen sein. Die antike Rhetorik (Aristoteles, Cicero, Quintilian) entwickelte ein differenziertes System zur Produktion einer wirkungsvollen Rede, für die sie verschiedene Gattungen, innere Gliederungsmomente, vor allem aber eine Vielzahl von sprachlichen Figuren mit jeweils ganz bestimmter Funktion bereitstellte. Literarische Stilistik nutzt vor allem diese rhetorische Figurenlehre, um Stilmerkmale eines Textes beschreiben zu können: etwa Abweichungen von der Alltagssprache im Satzbau, vor allem aber im Bereich literarischer Bildlichkeit. Die dichterischen Mittel der Metapher, der Metonymie, der Allegorie (um nur die drei prominentesten zu nennen) sind ursprünglich rhetorische Gestaltungsmittel).“ (Jeßing / Köhnen 2012: 213-214) MERKEN SIE SICH – FÜNF EBENEN DER STILISTISCHEN ANALYSE Auf der Ebene der Laute und Silben werden das Metrum (siehe Kapitel 4) und die Onomatopoie (auch Lautmalerei, Klangmalerei oder Klangnachahmung genannt) untersucht. Bei der Onomatopoie handelt es sich um die Nachahmung von natürlichen Klängen und Geräuschen, die zur Bildung von Interjektionen und Wörtern führt. Diese werden vor allem dann eingesetzt, „wenn die thematisierten Gegenstände stärker vergegenwärtigt werden sollen, wenn eine bestimmte Hintergrundstimmung oder Atmosphäre geschaffen werden soll (sogenannte Lautsymbolik) und wenn mit inhaltslosen Sprachelementen ‚musiziert‘ werden soll (Dadaismus, konkrete Poesie)“ (Schneider 2008: 62). Im folgenden Textbeispiel (die erste Strophe aus dem Gedicht „Frühlings Ankunft“ von Heinrich Hoffmann von Fallersleben) sind die klangmalerischen Elemente blau markiert. Alle Vögel sind schon da, Alle Vögel, alle! Welch ein Singen, Musicir'n, Pfeifen, Zwitschern, Tirelir'n, Frühling will nun einmarschir'n, Kommt mit Sang und Schalle. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 37 (Hoffmann von Fallersleben 1976: 19) Auf der Ebene des Wortes wird zunächst nach den Besonderheiten in der Wortwahl (z. B. Wörter aus den Dialekten, Fachsprachen und Gruppensprachen, Archaismen und Neologismen) gesucht. Im folgenden Textbeispiel (ein Auszug aus der Novelle Der Schimmelreiter von Theodor Storm) sind z. B. die Wörter aus dem norddeutschen Dialekt und der friesischen Sprache grün markiert. Deichgraf und Gevollmächtigte wandten die Köpfe gegen die Stubentür. »Was ist?« rief der erstere. Ein starker Mann, den Südwester auf dem Kopf, war eingetreten. »Herr«, sagte er, »wir beide haben es gesehen, Hans Nickels und ich: der Schimmelreiter hat sich in den Bruch gestürzt!« »Wo saht Ihr das?« frug der Deichgraf. – »Es ist ja nur die eine Wehle; in Jansens Fenne, wo der Hauke-Haien-Koog be- ginnt.« »Saht Ihr's nur einmal?« – »Nur einmal; es war auch nur wie Schatten, aber es braucht drum nicht das erste Mal gewesen zu sein.« (Storm 1978: 295) Ebenfalls auf der Ebene des Wortes werden die sog. Tropen untersucht. Es handelt sich um rhetorische Stilmittel, die die literarische Bildlichkeit verstärken, indem sie die Bedeutung der Wörter verändern. Hierzu gehören vor allem die Metapher (Bedeutungsübertragung aufgrund der Ähnlichkeit), die Metonymie (Bedeutungsübertragung aufgrund der sachlichen Zusammengehörigkeit), die Synekdoche (Ersetzung des Oberbegriffs durch den Unterbegriff oder umgekehrt), die Periphrase (Umschreibung durch Wörter, die die charakteristischen Merkmale des Umschriebenen ausdrücken), die Hyperbel (Übertreibung) und die Litotes (doppelte Verneinung oder Verneinung des Gegenteils). In den folgenden Textbeispielen (Auszüge aus der Lyrik und Prosa) sind die Tropen farbig markiert: Metapher rot, Metonymie rosa, Synekdoche violett, Periphrase blau, Hyperbel gelb und Litotes grün. Wir sindt doch nuhmer gantz/ ja mehr den gantz verheret! Der frechen völcker schaar/ die rasende posaun Das vom blutt fette schwerdt/ die donnernde Carthaun Hatt aller schweis/ vnd fleis/ vnd vorraht auff gezehret. […] Hier durch die schantz vnd Stadt/ rint alzeit frisches blutt. (Gryphius 1963: 48) Wenn mein Gemahl ihnen mit seinen ausschweifenden Feuerbelustigungen das Dach über dem Kopfe ansteckte, dann wußte er mit wenigen Zaubersprüchen der Flamme bald Einhalt zu tun. (Brentano 1965: 213) Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Analyse der rhetorischen Stilmittel 38 Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn! (Goethe 1950: 145) Im ersten Augenblick schien mir die Idee nicht mal so übel. Wie gesagt, hatte ich das Kellnerinnenleben bis dahinaus satt, und eine gute solide Heirat mit Zubehör einer geordneten Häuslichkeit und sicheren Existenzverhältnissen, war ja egal das, was ich mir wünschte. (Biedenbach 1906: 143) Auf der Ebene des Satzes wird zunächst nach den Besonderheiten im Satzbau (z. B. Vorliebe für komplizierte Satzkonstruktionen oder Verstöße gegen die „schulbuchmäßige“ Satzgliedstellung) gesucht. Das folgende Textbeispiel (der Anfang der Novelle Die Marquise von O… von Heinrich von Kleist) zeigt einen für Kleist typischen hochkomplexen Satz. In M..., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O..., eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekanntmachen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten. (Kleist 1978: 113) Ebenfalls auf der Ebene des Satzes werden die rhetorischen Figuren untersucht, die ähnlich wie die vorbeschriebenen Tropen zum Redeschmuck gehören. Hierzu gehören vor allem die Anapher (Wiederholung eines oder mehrerer Wörter am Anfang von aufeinanderfolgenden Sätzen oder Versen), die Ellipse (Auslassung eines oder mehrerer Satzteile, ohne dass der Satz unverständlich wird), der Parallelismus (Aneinanderreihung von Sätzen mit gleicher Satzgliedfolge), das Oxymoron (Verbindung von Begriffen, die sich gegenseitig ausschließen) und der Chiasmus (Nebeneinanderstellung von Sätzen oder Teilsätzen mit spiegelbildlicher Satzgliedfolge). In den folgenden Textbeispielen (Auszüge aus der Lyrik und dem Drama) sind die rhetorischen Figuren farbig markiert: Anapher rosa, Ellipse violett, Parallelismus blau, Oxymoron gelb und Chiasmus grün. Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, Aufgestanden unten aus Gewölben tief. In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt, Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand. (Heym 1964: 346) SPIEGELBERG. Tee, Bruder, Tee! (Schiller 1962: 503) Sie hören weit. Sie sehen fern. Sie sind mit dem Weltall in Fühlung. Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern. Die Erde ist ein gebildeter Stern mit sehr viel Wasserspülung. (URL1) Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 39 Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog, Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön, Liebend unterzugehen, In die Fluten der Zeit sich wirft. (Hölderlin 1953: 14) Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit, Leicht beieinander wohnen die Gedanken, Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen, Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken, Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben, Da herrscht der Streit, und nur die Stärke siegt. (Schiller 1962: 435) Auf der Ebene des Textes wird untersucht, wie schwierig der Text ist, in welche Segmente er gegliedert ist, ob er handlungsreich oder handlungsarm ist und inwieweit er von der gesprochenen Sprache beeinflusst wurde. Am folgenden Textbeispiel (ein Auszug aus dem ersten Akt des Dramas Die Räuber von Friedrich Schiller) ist gut zu sehen, wie die Autoren des Sturm und Drang in ihre Texte die Elemente der gesprochenen Sprache (Ausrufe, Fragen, unvollständige Sätze, umgangssprachliche Wörter) aufnahmen. SPIEGELBERG. Also denn! Er stellt sich mitten unter sie mit beschwörendem Ton. Wenn noch ein Tropfen deutschen Heldenbluts in euren Adern rinnt – kommt! Wir wollen uns in den böhmischen Wäldern niederlassen, dort eine Räuberbande zusammenziehen und – Was gafft ihr mich an? – Ist euer bißchen Mut schon verdampft? (Schiller 1962: 510) Auf der Ebene des Textkorpus oder der Textkorpora werden der individuelle, einzigartige Stil eines Autors sowie die Besonderheiten der einzelnen literaturhistorischen Epochen untersucht. Wenn man z. B. die Novellen von Heinrich von Kleist untereinander vergleicht, stellt man fest, dass sie aus den gleichen hochkomplexen Sätzen wie das oben zitierte Beispiel bestehen. Ein komplizierter Satzbau ist also ein wichtiges Merkmal von Kleists individuellem Stil. Oder wenn man die Dramen des Sturm und Drang untereinander vergleicht, stellt man fest, dass sie genauso stark wie Schillers Räuber von der gesprochenen Sprache beeinflusst sind. Der Gebrauch von Ausrufen, unvollständigen Sätzen und mundartlichen Wörtern ist also ein gemeinsames Merkmal der Literatur des Sturm und Drang. ZUSAMMENFASSUNG Ein wichtiges Kennzeichen der Literatursprache ist die geschmückte Rede. Diese zeichnet sich durch besondere, in den nicht-literarischen Texten nur selten anzutreffende Wörter, Wortverbindungen und Satzkonstruktionen aus, die als „Redeschmuck“ bezeichnet werden. Der Redeschmuck besteht aus den rhetorischen Stilmitteln, deren Gebrauch Analyse der rhetorischen Stilmittel 40 von der Stilistik analysiert wird. Die stilistische Analyse wird in der Regel auf fünf Ebenen durchgeführt: auf der Ebene der Laute und Silben (Suche nach onomatopoetischen Elementen), auf der Ebene des Wortes (Suche nach Besonderheiten im Vokabular und nach den Tropen), auf der Ebene des Satzes (Suche nach Besonderheiten in der Syntax und nach den rhetorischen Figuren), auf der Ebene des Textes (Untersuchung des Schwierigkeitsgrades, der Gliederung und der Handlungsdarstellung) und auf der Ebene des Textkorpus (Suche nach dem individuellen Stil eines Autor oder den Besonderheiten einer literaturgeschichtlichen Epoche). SEKUNDÄRLITERATUR Das Kapitel arbeitet mit folgenden Primärquellen:  Biedenbach, Mieze (1906): Mieze Biedenbachs Erlebnisse. Erinnerungen einer Kellnerin. Berlin, S. 1-260. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003601218.  Goethe, Johann Wolfgang (1950): Goethes Werke. Band 7. Hamburg, S. 145-152. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004854594.  Brentano, Clemens (1965): Werke. Band 3, München. S. 106-232. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004601181.  Gryphius, Andreas (1963): Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 1. Tübingen, S. 48. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000491788X.  Heym, Georg (1964): Dichtungen und Schriften. Band 1. Hamburg / München, S. 190-193. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005057736.  Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich (1976): Kinderlieder. Hildesheim / New York, S. 19-20. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005080975.  Hölderlin, Friedrich (1953): Sämtliche Werke. Band 2. Stuttgart, S. 13-15. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005104580.  Kästner, Erich: Die Entwicklung der Menschheit. URL1: https://www.deutschelyrik.de/die-entwicklung-der-menschheit.html (4.2.2020).  Kleist, Heinrich von (1978): Werke und Briefe in vier Bänden. Band 3. Berlin / Weimar. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005169038.  Schiller, Friedrich (1962): Sämtliche Werke. Band 1. München, S. 502-516. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005604621.  Schiller, Friedrich (1962): Sämtliche Werke. Band 2. München, S. 431-436. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000560883X.  Storm, Theodor (1978): Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4. Berlin / Weimar, S. 251-372. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005726441. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 41 Das Kapitel arbeitet mit folgender Sekundärliteratur:  Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart; Weimar.  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld. Literarische Gattungen 1: Lyrik 42 6 LITERARISCHE GATTUNGEN 1: LYRIK EINLEITEND Das Kapitel beschäftigt sich mit der Lyrik, die neben der Epik und dem Drama zu den drei wichtigsten literarischen Gattungen gehört. Der Fokus liegt auf der Terminologie und dem formalen Aufbau der lyrischen Texte. Die theoretischen Begriffe werden anhand eines authentischen Textes erläutert. Der Studierende lernt auf diese Weise die lyrischen Texte analytisch zu lesen und eignet sich das Know-how für die Analyse dieser Texte an. ZIELE Das Kapitel will:  den Begriff „Lyrik“ definieren,  die wichtigsten Termini erläutern, deren Kenntnis für die Analyse lyrischer Texte notwendig ist,  den formalen Aufbau lyrischer Texte beschreiben,  die bedeutendsten Repräsentanten der deutschsprachigen Lyrik nennen. SCHLÜSSELWÖRTER Lyrik, Gedicht Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 43 MERKEN SIE SICH – LYRIK  Der Begriff „Lyrik“ geht auf das altgriechische Wort lyrike zurück, das so viel wie von der Lyra begleitet bedeutet. Die Lyra war ein antikes Musikinstrument (eine Art Leier), zu dessen Spiel Gedichte (sog. Oden) vorgetragen wurden.  Unter dem Begriff „Lyrik“ verstand man früher nur jene Gedichte, die zur Leier (Lyra oder Kithara) vorgetragen wurden. Gedichte wie Elegien, Epigramme oder die im Mittelalter entstandenen Sonette, die heute als lyrische Gattungsformen gelten, wurden dagegen als selbständige Gattungsformen außerhalb der Lyrik betrachtet. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde die Lyrik zu einer literarischen Gattung erklärt und auf die Texte bezogen, die in Versen verfasst sind und subjektive Gefühle ausdrücken.  Das charakteristische Merkmal der Lyrik ist die Rede in Versen. Andere Merkmale, die früher für Kennzeichen lyrischer Texte gehalten wurden – die Subjektivität, die Kürze und der besonders kreative Umgang mit der Sprache –, sind heute um- stritten.  Ein lyrischer Text besteht aus Versen, die metrisch geordnet sein können (aber nicht müssen). Die metrisch geordneten Verse können auf Strophen verteilt werden. Auch jene Verse, die nicht metrisch geordnet sind, können in Gruppen gegliedert werden. Diese Versgruppen werden aber nicht als Strophen bezeichnet.  Die Stimme des Gedichts wird als lyrisches Ich bezeichnet. Dieses lyrische Ich darf nicht mit dem Autor des Gedichts identifiziert werden, sondern es handelt sich um eine Rolle, die der Dichter im Gedicht spielt.  Die Analyse der Lyrik konzentriert sich gleichermaßen auf Form und Inhalt, denn die Bedeutung eines Gedichts kann oft nur unter Berücksichtigung seiner äußeren Gestaltung völlig erschlossen werden.  Die bedeutendsten Gedichtformen, die bereits in der Antike entstanden sind, sind die Ode, die Hymne, die Elegie und das Epigramm. Für die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik sind außerdem der Minnesang, die Spruchdichtung, das Lied, die Ballade und das Sonett wichtig.  Die bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker (unabhängig davon, ob sie sich selbst als Lyriker sahen), sind Walther von der Vogelweide (um 1170-um 1230), Andreas Gryphius (1616-1664), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), Novalis (1772-1801), Joseph von Eichendorff (1788-1857), Heinrich Heine (1797-1856) und Rainer Maria Rilke (1875- 1926). Literarische Gattungen 1: Lyrik 44 FALLSTUDIE – AUTHENTISCHER TEXT Johannes R. Becher: Tränen des Vaterlandes Anno 1937 I O Deutschland! Sagt, was habt aus Deutschland ihr gemacht?! a Ein Deutschland stark und frei ?! Ein Deutschland hoch in Ehren?! b Ein Deutschland, drin das Volk sein Hab und Gut kann mehren, b Auf aller Wohlergehn ist jedermann bedacht?! a Erinnerst du dich noch des Rufs: »Deutschland erwacht!«? c Als würden sie dich bald mit Gaben reich bescheren, d So nahmen sie dich ein, die heute dich verheeren. d Geschlagen bist du mehr denn je in einer Schlacht. c Dein Herz ist eingeschrumpft. Dein Denken ist mißraten. e Dein Wort ward Lug und Trug. Was ist noch wahr und echt?! f Was Lüge noch verdeckt, entblößt sich in den Taten: e Die Peitsche hebt zum Schlag ein irrer Folterknecht, f Der Henker wischt das Blut von seines Beiles Schneide - g O wieviel neues Leid zu all dem alten Leide! g II Du mächtig deutscher Klang: Bachs Fugen und Kantaten! Du zartes Himmelsblau, von Grünewald gemalt! Du Hymne Hölderlins, die feierlich uns strahlt! O Farbe, Klang und Wort: geschändet und verraten! Gelang es euch noch nicht, auch die Natur zu morden?! Ziehn Neckar und der Rhein noch immer ihren Lauf? Du Spielplatz meiner Kindheit: wer spielt wohl heut darauf Schwarzwald und Bodensee, was ist aus euch geworden? Das vierte Jahr bricht an. Um Deutschland zu beweinen, Stehn uns der Tränen nicht genügend zu Gebot, Da sich der Tränen Lauf in so viel Blut verliert. Drum, Tränen, haltet still! Laßt uns den Haß vereinen, Bis stark wir sind zu künden: »Zu Ende mit der Not!« Dann: Farbe, Klang und Wort! Glänzt, dröhnt und jubiliert! Quelle: http://www.gabrieleweis.de/2-bldungsbits/literaturgeschichtsbits/themaheimatverlust-exil/becher.htm#_ftn1 (5.10.2013). *** Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 45 Der vorstehende lyrische Text besteht aus zwei Gedichten von Johannes R. Becher, die durch den gemeinsamen Titel und das gemeinsame Thema (Situation im NSDeutschland) zu einem Ganzen verbunden sind. Über lyrische Texte als über Gedichte zu sprechen, ist jedoch problematisch. Auch epische und dramatische Texte wurden früher als Gedichte bzw. Dichtungen bezeichnet. Das Drama ‚Nathan der Weise‘ von Gotthold Ephraim Lessing z. B. heißt im Untertitel „ein dramatisches Gedicht“. Dementsprechend kann auch der beliebte Begriff „Poesie“ nicht einfach mit der Lyrik gleichgesetzt werden (wie es heute üblich ist), sondern er bezieht sich auf alle literarischen Werke. Bei einer literarischen Analyse reicht es folglich nicht aus, das zu analysierende Werk als „Gedicht“ oder „Poesie“ zu bezeichnen, sondern man muss versuchen, es einer konkreten literarischen Gattung zuzuordnen. (Das ist vor allem bei modernen Texten nicht immer leicht, denn einige Autoren versuchten in ihrem Werk die traditionellen Grenzen zwischen den literarischen Gattungen aufzuweichen oder überhaupt zu verwischen.) Die grün markierte Passage ist ein Vers. Der Vers ist das wichtigste Merkmal eines lyrischen Textes, aber kein exklusives. Auch epische und dramatische Texte können in Versen verfasst werden (auch wenn es heute eher unüblich ist). Ein Epos z. B. ist ein langes Gedicht in Versen, gehört aber nicht zur Lyrik, sondern – wie sein Name suggeriert – zur Epik. Auch die mittelalterlichen Versromane über König Artus und die Ritter der Tafelrunde gehören zur Epik – genauso wie die modernen, in Prosa geschriebenen Kriminalromane von Agatha Christie. Der berühmte Alexandriner, ein sechshebiger jambischer Vers, in dem zahlreiche Sonette aus der Zeit des Barock verfasst sind, stammt übrigens aus einem mittelalterlichen französischen Roman über den antiken Eroberer Alexander den Großen. Ob es außer dem Vers noch andere Merkmale gibt, die man als Kennzeichen der Lyrik bezeichnen könnte, ist heute umstritten. Liedhaftigkeit, Kürze und eine besonders kreative Sprachverwendung, die manchmal als Merkmale der Lyrik angegeben werden, treffen nicht auf alle lyrischen Texte zu oder unterscheiden sie nicht eindeutig von anderen Gattungen. Auch die früher oft genannte Subjektivität ist kein verlässliches Kennzeichen der lyrischen Texte. Seit Ende des 18. Jahrhunderts, als sich die Lyrik als die dritte literarische Gattung etablierte, betrachtete man lyrische Texte als spontane Aussagen ihrer Autoren, die in den Versen ihre subjektiven Stimmungen ventilierten. „Diese Konzeption von Lyrik wird gemeinhin mit dem Begriff der Erlebnislyrik bezeichnet – ein Begriff, der zwei nicht unproblematische Implikationen hat: Erstens wird das ‚Ich‘ des Gedichtes als weitgehend oder völlig identisch mit dem historisch-biographischen Ich des Dichters oder der Dichterin betrachtet; zweitens wird vorausgesetzt, hier drücke sich tatsächlich (bürgerliche) Subjektivität aus, die ‚echten‘ Empfindungen und Erlebnisse des Dichters kämen in der Lyrik unmittelbar zum Ausdruck.“ (Jeßing / Köhnen 2012: 149) Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Begriff „lyrisches Ich“ als Bezeichnung für die Stimme des Gedichts eingeführt wurde, werden lyrische Texte nicht mehr als authentische Aussagen ihrer Autoren betrachtet. „Das ‚Ich‘ im Gedicht wird als Rollenspiel des Autors bzw. der Autorin entlarvt, es ist nicht mehr naiv identifizierbar mit dem historisch-biographischen Ich. Damit wird natürlich auch die Auffassung des Gedichts als ‚Er- Literarische Gattungen 1: Lyrik 46 lebnis-Gedicht‘ höchst fragwürdig. Wenn das ‚Ich‘ im Gedicht problematisch wird, gilt das natürlich gleichermaßen für die diesem Ich zugeschriebenen Erlebnisse, Wahrnehmungen und Gefühle – jedenfalls ist das scheinbar subjektive Erleben, das im Gedicht Ausdruck findet, eine Inszenierung, eine Zuschreibung, im Extremfall sogar: eine Erfindung, eine Fiktion.“ (Jeßing / Köhnen 2012: 150) Es ist wie auf dem Theater: Wenn ein Schauspieler auf der Bühne steht und über den Verlust seiner Geliebten klagt, weiß der Zuschauer sofort, dass diese Klage nicht „echt“ ist – der Schauspieler persönlich ist nicht traurig, sondern er spielt nur eine traurige Rolle und vergießt falsche Tränen. Auch der Dichter spielt in seinem Gedicht eine Rolle. Diese Rolle wird als lyrisches Ich bezeichnet und ermöglicht dem Dichter, verschiedene Gefühle zu simulieren. Die Verse in Bechers Gedichten sind metrisch geordnet. Jeder Vers besteht aus 6 betonten Silben (sog. Hebungen – blau markiert) und 6-7 unbetonten Silben (sog. Senkungen – nicht markiert). Die Verse sind also sechshebig. Die betonten und unbetonten Silben wechseln regelmäßig miteinander ab (auf eine unbetonte Silbe folgt stets eine betonte), was für das aus Jamben bestehende Versmaß charakteristisch ist (der Jambus ist ein zweisilbiger Versfuß, der aus einer unbetonten und einer betonten Silbe besteht). Die einzelnen Verse sind durch einen Endreim miteinander verbunden, dessen Schema allerdings unterschiedlich ist: Im ersten Gedicht kommt in der ersten und zweiten Strophe der umarmende Reim (abba – cddc) vor, in der dritten Strophe der Kreuzreim (efef) und in der vierten Strophe der Paarreim (gg). In der dritten Strophe des ersten Gedichts befindet sich außerdem ein Binnenreim (rosa markiert). Man kann also zusammenfassend sagen, dass Bechers Gedichte aus sechshebigen, jambischen, gereimten Versen bestehen. Diese Verse werden als Alexandriner bezeichnet und waren vor allem in der Literatur des Barock und des Klassizismus populär. Bechers Gedichte entstanden zwar im 20. Jahrhundert, aber der Dichter schrieb sie in Anlehnung an das berühmte barocke Gedicht Threnen des Vatterlandes / Anno 1636 von Andreas Gryphius. An diese Vorlage erinnert nicht nur der gleiche Titel von Bechers Gedichten, sondern – wie wir gerade gesehen haben – auch der formale Aufbau. Bechers Gedichte bestehen jeweils aus 14 Versen, die auf je 4 Strophen verteilt sind. Dieses Schema entspricht der Gedichtform des Sonetts, so dass Bechers Gedichte als Sonette bezeichnet werden können. Das erste Gedicht entspricht dabei dem sog. Shakespeare-Sonett, das aus drei Quartetten und einem abschließenden Verspaar besteht, während das zweite Gedicht dem Petrarca-Sonett entspricht, das aus zwei Quartetten und zwei Terzetten besteht. Quartett und Terzett sind nicht die einzigen Namen für Strophen. Je nachdem, aus wie vielen Versen sie bestehen, wie lang und wie geordnet diese Verse sind, werden die Strophen mit verschiedenen Namen bezeichnet: Die Gliederung eines Gedichts in Strophen ist nicht selbstverständlich. Bei Gedichten, deren Verse nicht metrisch geordnet sind (sog. freie Rhythmen), spricht man nicht über Strophen, sondern über Abschnitte oder – wenn diese Versgruppen gleich lang sind – über sog. Scheinstrophen. Vor allem in der modernen Lyrik gibt es Gedichte, die auf eine Verteilung der Verse auf Strophen bzw. Abschnitte vollständig verzichten. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 47 Die Feststellung, wie die einzelnen Verse gebaut und auf Strophen verteilt sind, ist ein wichtiger Punkt der Analyse. „Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die meisten Versund Strophenformen eine ausgeprägte eigene Tradition besitzen, deren Kenntnis von großer Bedeutung für die Textauslegung sein kann. Ob ein politisches Lied in einer sehr gängigen oder in einer ganz ungewöhnlichen Strophenform verfasst ist, müssen wir z. B. beurteilen können, um die vermutlichen Wirkungspotenziale des Werkes zutreffend einzuschätzen.“ (Schneider 2008: 138) Genauso wichtig ist die Feststellung, ob und wie der Autor an ein älteres Vorbild anknüpft. Die Tatsache, dass Becher in seinen Gedichten, in denen er die Situation im NS-Deutschland beschreibt, an ein barockes Antikriegsgedicht anknüpft, in dem die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges thematisiert werden, verleiht diesen Gedichten eine besondere Qualität, die in einer Interpretation nicht unbeachtet bleiben darf. ZUSAMMENFASSUNG Die Lyrik ist neben der Epik und dem Drama eine „traditionelle“ Literaturgattung. Das war aber nicht von Anfang an so. Im antiken Griechenland, wo die Wurzeln der europäischen Lyrik liegen, galten nur diejenigen Texte als lyrisch, die zu einer begleitenden Leier (Lyra) vorgetragen wurden. Diese Texte wurden als Oden bezeichnet, was so viel wie „Gesang“ bedeutet. Auch Hymnen wurden zur Leier (Kithara) vorgetragen. Andere Texte, die heute als typische lyrische Gattungsformen gelten (z. B. das im mittelalterlichen Italien entstandene Sonett) wurden nicht für Bestandteile der Lyrik gehalten. Erst im 18. Jahrhundert wurden alle Texte, die in Versen geschrieben waren und angeblich spontane Aussagen über die subjektiven Gedanken und Gefühle ihrer Autoren enthielten, unter der „Lyrik“ subsumiert. Die Lyrik wurde zu einer Literaturgattung erklärt und behielt diesen Status bis heute. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als das lyrische Ich erfunden wurde, werden die lyrischen Texte allerdings nicht mehr als spontane Ausdrücke subjektiver Stimmungen, sondern als ein Rollenspiel betrachtet, in dem die Gefühle nur simuliert sind. Zu den bekanntesten lyrischen Gattungsformen gehören außer den in der Antike entwickelten Oden, Hymnen und Elegien das Lied, die Ballade und das Sonett. SEKUNDÄRLITERATUR Das Kapitel arbeitet mit folgender Primärquelle:  http://www.gabrieleweis.de/2-bldungsbits/literaturgeschichtsbits/themaheimatverlust-exil/becher.htm#_ftn1 (5.10.2013). Das Kapitel arbeitet mit folgender Sekundärliteratur: Literarische Gattungen 1: Lyrik 48  Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart; Weimar.  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 49 7 LITERARISCHE GATTUNGEN 2: EPIK EINLEITEND Das Kapitel beschäftigt sich mit der Epik, die neben der der Lyrik und dem Drama zu den drei wichtigsten literarischen Gattungen gehört. Der Fokus liegt auf der Terminologie und dem formalen Aufbau der epischen Texte. Die theoretischen Begriffe werden anhand authentischer Texte erläutert. Der Studierende lernt auf diese Weise die epischen Texte analytisch zu lesen und eignet sich das Know-how für die Analyse dieser Texte an. ZIELE Das Kapitel will:  den Begriff „Epik“ definieren,  die wichtigsten Termini erläutern, deren Kenntnis für die Analyse epischer Texte notwendig ist,  den formalen Aufbau epischer Texte beschreiben,  die bedeutendsten Repräsentanten der deutschsprachigen Epik nennen. SCHLÜSSELWÖRTER Epik, erzählende Literatur Literarische Gattungen 2: Epik 50 MERKEN SIE SICH – EPIK  Der Begriff „Epik“ geht auf das altgriechische Wort epikos zurück, das so viel wie zum Epos gehörend bedeutet. Das Epos ist ein langes Gedicht in Versen, in dem von den Taten der Götter und Helden sowie von den Geschicken der Völker erzählt wird. Es wurde in der Antike entwickelt und galt bis ins 18. Jahrhundert als die epische Gattungsform schlechthin.  Das charakteristische Merkmal der Epik ist die Anwesenheit des Erzählers. Dieser ist eine fiktive Instanz, die die von ihr erzählte Geschichte als eigene Erfindung bzw. Erfahrung ausgibt und als solche an den Leser vermittelt. Der erste Schritt bei der Analyse eines epischen Textes besteht folglich in der Untersuchung der jeweiligen Erzählsituation.  Ein epischer Text kann in Versen (früher die vorherrschende Variante) oder in Prosa (die seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Variante) verfasst sein. Die zunehmende Bevorzugung der Prosa führte dazu, dass die gesamte epische Gattung gelegentlich als „Prosa“ oder „erzählende Prosa“ bezeichnet wird.  Die bedeutendsten epischen Gattungsformen, die bereits in der Antike entstanden sind, sind das Epos und der Roman (der sog. antike Roman ist allerdings eine retrospektive Genrebezeichnung, da die Griechen und Römer den erst im Mittelalter entstandenen Begriff „Roman“ noch nicht kannten). Weitere wichtige epische Gattungsformen sind die Novelle, die Erzählung, die Kurzgeschichte und die Fabel.  Die bedeutendsten deutschsprachigen Epiker sind Wolfram von Eschenbach (um 1160/80-um 1220), Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622-1676), Christoph Martin Wieland (1733-1813), Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), E. T. A. Hoffmann (1776-1822), Theodor Fontane (1819-1898), Heinrich Mann (1871-1950) und Thomas Mann (1875-1955). FALLSTUDIE – AUTHENTISCHER TEXT Henry Fielding: Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (Auszug) Eine kurze Beschreibung des Junkers Alwerth und eine längere Nachricht von Fräulein Brigitta, Alwerths Schwester. In der Landschaft, welche in dem westlichen Teile von England liegt und gewöhnlich Sommersetshire genannt wird, lebte ehedem ein Landedelmann (und lebt vielleicht noch), dessen Name Alwerth hieß, und den man gar füglich einen Liebling beides, der Natur und des Glücks, nennen konnte; denn beide schienen um die Wette gestritten zu haben, wer ihn am meisten begünstigen und bereichern sollte. In diesem Streite mag, nach einiger Bedünken, die Natur gesiegt haben, weil sie ihn mit mancherlei Gaben beschenkte; derweile das Glück nur eine einzige besaß, in Bescherung dieser aber so freigebig war, daß Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 51 andere vielleicht denken mögen, diese einzige Gabe sei mehr als hinreichend gewesen, allen Spenden, die er von der Natur empfangen hatte, Gleichgewicht zu halten. Von der Natur erhielt er eine angenehme Figur und Gestalt, ein dauerhafte Gesundheit, einen gründlichen Verstand und ein wohlthätiges Herz; von dem Glück erhielt er die Erbschaft eines der größesten Landgüter. Dieser Edelmann hatte in seiner Jugend ein würdiges und schönes Frauenzimmer geheiratet, die er sehr zärtlich geliebt hatte. Mit ihr hatte er drei Kinder, welche alle sehr jung starben; er hatte auch das Unglück erlebt, selbst diese seine geliebte Gattin zu begraben, ungefähr fünf Jahre vorher, als diese Geschichte ihren Anfang zu nehmen beliebt. Diesen Verlust, so groß er auch war ertrug er wie ein verständiger, gesetzter Mann, ob man gleich nicht ableugnen kann, daß er oft ein wenig sonderbar über diesen Punkt sprach; denn zuweilen sagte er: er hielte sich noch beständig für verheiratet und dächte, seine Frau habe nur ein wenig früher als er eine Reise angetreten, auf welcher er ihr ganz gewiß früher oder später folgen werde; er hege nicht den geringsten Zweifel, sie an einem Orte wieder anzutreffen, wo er sich nie wieder von ihr trennen würde. Wegen dergleichen Aeußerungen hatte ein Teil seiner Nachbaren seinen Verstand, ein zweiter seine Religion und ein dritter seine Aufrichtigkeit im Verdacht. Jetzt lebte er die meiste Zeit auf dem Lande mit einer Schwester, für die er zärtlichste Bruderliebe hatte. Dies Fräulein war schon etwas über die dreißig hinaus; ein Alter, in welchem man nach der Meinung gewisser hämischer Leute den Titel: alte Jungfer mit aller Schicklichkeit führen kann. Sie war von derjenigen Gattung Frauenzimmer, an welchen man eher die guten Eigenschaften als die Schönheit preiset, und welche von ihrem eignen Geschlechte gewöhnlich so ein guter Schlag von Mädchen genannt wird. – In der That! so ein guter Schlag von Mädchen, Madame, als Sie zu kennen wünschen mögen. Wirklich war sie so weit entfernt den Mangel an Schönheit zu bedauern, daß sie dieser Vollkommenheit (wenn es noch einmal eine genannt werden kann) nie anders, als mit Verachtung erwähnte und oft dem lieben Gott dankte, daß sie nicht so hübsch sei als dieses oder jenes Fräulein, welche ihre Schönheit vielleicht zu Fehltritten verleitet hätte, die sie ohnedem hätte vermeiden können. Fräulein Brigitta Alwerth (denn so hieß dieses Frauenzimmer) sah sehr richtig ein, daß die persönlichen Reize eines Frauenzimmers nichts Besseres wären als Fallstricke, aufgestellt für sich selbst und für andere, und dennoch war sie so bedächtlich in ihrer Aufführung, daß ihre vorsichtige Klugheit ebenso scharf wachte, als ob sie alle Fallstricke zu befürchten hätte, die nur jemals ihrem ganzen Geschlechte gelegt sein mögen. In der That habe ich bemerkt (so unbegreiflich dem Leser die Sache vorkommen mag), daß diese Wache der klugen Vorsicht ebenso wie die alten Pfahlbürger beständig dann und am liebsten auf solche Posten zieht, wann und wo die wenigste Gefahr ist. Oft verläßt sie niederträchtiger, feigherziger Weise solche Schönheiten, nach welchen die Männer insgesamt trachten, um die sie seufzen, für die sie sterben und denen sie so viele Netze aufstellen, als sie nur haben und erdenken können; und hingegen gehet sie jener höhern Gattung von Weiblein nicht von der Ferse, für welche das männliche Geschlecht eine weit größere und tiefere Ehrfurcht hegt, und welche es (aus Verzweiflung glaube ich, daß es ihm glücken könne) niemals anzugreifen wagt. Literarische Gattungen 2: Epik 52 Lieber Leser, ich erachte für rathsam dich, ehe wir noch einen Schritt mit einander weiter gehen, zu benachrichtigen, daß ich willens bin, diese ganze Geschichte hindurch so oft einen Nebenweg zu nehmen, als sich dazu Gelegenheit findet, worüber ich ein besserer Richter bin als irgend ein winziger Kritikus: und hier muß ich alle diese Kritiker ersuchen, sich um ihre eigenen Händel zu bekümmern und sich in keine Sachen oder Werke zu mischen, die sie auf der Welt nichts angehen: denn ich werde ihre richterliche Gewalt nicht eher anerkennen, bis sie die Vollmacht aufweisen, wodurch sie sich als Richter gehörig legitimieren können. Quelle: Fielding, Henry (1883): Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Band 1. Stuttgart, S. 13-15. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004752333. *** Der Begriff „Epik“ ist von dem altgriechischen Wort epos abgeleitet, das so viel wie Wort bedeutet. Das Epos ist zugleich ein besonderes episches Genre, von dem bereits in der Poetik von Aristoteles die Rede ist. Es handelt sich um ein langes Gedicht in Versen (vor allem in Hexametern), in dem von den Taten der Götter und Helden und von den Geschicken der Völker erzählt wird. Das Epos ist ein Beleg dafür, dass es falsch ist, den Begriff „Gedicht“ allein auf die Lyrik beziehen zu wollen. Auch epische Texte können die Form eines Gedichts haben – moderne Verserzählungen werden gelegentlich Erzählgedichte genannt. Sogar die in Prosa verfassten Romane, die sich im Laufe der Zeit zur wichtigsten epischen Gattungsform entwickelten, wurden gelegentlich als Gedichte bezeichnet – so z. B. von Henry Fielding, einem englischen Romanautor aus dem 18. Jahrhundert, der seinen Roman Joseph Andrews als „komisches Erzählgedicht in Prosa“ (comic epic poem in prose) bezeichnete. Die Epik wird alternativ erzählende Literatur genannt. Ihr charakteristisches Merkmal ist folglich die Anwesenheit eines Erzählers – einer fiktiven Instanz, die die von ihr erzählte Geschichte als eigene Erfindung bzw. Erfahrung ausgibt und als solche an den Leser vermittelt. Der Erzähler ist die Stimme des epischen Textes – gewissermaßen vergleichbar mit dem lyrischen Ich in den lyrischen Texten – und darf nie mit dem realen Autor identifiziert werden (ebenso wie das lyrische Ich nicht mit dem realen Dichter identifiziert werden darf). Es ist also nicht richtig, zu behaupten, dass der Schriftsteller XY in seinem Roman die politischen Zustände in seiner Heimat kommentiert. Sämtliche Kommentare gehören dem Erzähler. Da der Erzähler für die Epik so wichtig ist, besteht der erste Schritt bei der Analyse eines epischen Textes in der Feststellung, ob sich die Welt des Erzählers mit der Welt der übrigen Figuren überschneidet, inwieweit der Erzähler in das Geschehen involviert ist und wie groß sein Wissen über dieses Geschehen ist. Obwohl in dieser Sache bis heute keine Einstimmigkeit herrscht, hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein Modell durchgesetzt, das 4 Typen von Erzählsituationen unterscheidet: 1) auktoriale Erzählsituation, 2) personale Erzählsituation, 3) neutrale Erzählsituation und 4) Ich-Erzählsituation. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 53 Im oben zitierten Text von Henry Fielding herrscht die auktoriale Erzählsituation. Der auktoriale Erzähler ist eine vom Autor geschaffene „Überfigur“, deren Welt sich mit der Welt der übrigen Figuren nicht überschneidet. Er steht über dem Geschehen, tritt mit den übrigen Figuren nicht in Kontakt, kann aber mit dem Leser in Kontakt treten. Im oben zitierten Text z. B. wendet er sich an den Leser mit Erklärungen und Überlegungen zu den Geschehnissen und Figuren (siehe die rosa markierten Passagen). Der auktoriale Erzähler ist zwar nicht mit dem Autor identisch, aber er verfügt über sein Wissen. Gerade deswegen wird er als „auktorial“ bezeichnet – das Wort „auktorial“ geht auf das lateinische Wort auctor zurück, das so viel wie Urheber bedeutet und von dem auch das deutsche Wort „Autor“ abgeleitet ist. Da der Autor als Urheber der Geschichte alles weiß, weiß auch der auktoriale Erzähler alles. Er wird daher als „allwissender Erzähler“ bezeichnet. Der auktoriale Erzähler kennt sowohl den Anfang und das Ende der von ihm erzählten Geschichte als auch die Vorgeschichte. Er weiß sogar, was die Figuren denken und fühlen (siehe die violett markierte Passage). Dieses Wissen bezieht sich aber ausschließlich auf die erzählte Geschichte, die als abgeschlossene Vergangenheit dargestellt wird. (Die gelb markierte Passage erinnert an die berühmte Märchenphrase es war einmal, die man als „eine temporale Bestimmung, die das damals der Geschichte vom jetzt der Erzählung abtrennt“ (Dierks 2003: 29), verstehen muss.) Über die Schicksale der Figuren nach dem Ende der Geschichte – in der Gegenwart der Erzählung – kann auch der auktoriale Erzähler nur rätseln (siehe die blau markierte Passage). Bei den nicht-auktorialen Erzählern ist die Situation anders. Sie treten mit dem Leser nicht in Kontakt und sind nicht allwissend. Der personale Erzähler ist auf den ersten Blick schwer erkennbar. Er „versteckt sich“ hinter einer Figur (sog. Reflektorfigur), die in das Geschehen direkt involviert ist, und erzählt die Geschichte aus ihrer Sicht. Er ist aber mit dieser Figur nicht identisch und gibt das von ihm Erzählte nicht für das persönlich Erlebte aus. Daher wird in der personalen Erzählsituation – ebenso wie in der auktorialen Erzählsituation – in der Er-Form erzählt. Ähnlich steht es um den neutralen Erzähler, der sich hinter der hypothetischen Figur eines in das Geschehen nicht involvierten Beobachters versteckt und möglichst präzise erzählt, was er sieht und hört. In der IchErzählsituation wird ähnlich wie in der personalen Erzählsituation aus der Sicht einer in das Geschehen involvierten Figur erzählt. Der große Unterschied besteht darin, dass der Ich-Erzähler mit dieser Figur identisch ist und das Erzählte als das persönlich Erlebte darstellt. Der Erzähler ist die Stimme des epischen Textes. Der von ihm gesprochene Text wird als Erzählerbericht bezeichnet. „Dies ist der unpräzise Hilfsbericht der Literaturwissenschaft für alle Elemente der Erzählung, die nicht als Äußerung einer fiktiven Figur, sondern als unverstellte Verlautbarung der Erzählfunktion dargeboten werden: Bericht, Beschreibung, szenische Darstellung, Erörterung, raffende oder zusammenfassende Skizzierung größerer Geschehenszusammenhänge oder Ereignisabläufe o. ä.“ (Jeßing / Köhnen 2012: 188) Der von den übrigen Figuren gesprochene, von dem Erzähler nur wiedergege- Literarische Gattungen 2: Epik 54 bene Text wird dagegen als Figurenrede bezeichnet. Hierzu gehören vor allem die direkte und indirekte Rede, die die laut ausgesprochenen Aussagen der Figuren umfassen. (Der Unterschied zwischen der direkten und indirekten Rede besteht darin, dass Letztere in den Erzählbericht integriert ist.) Der Erzähler kann aber auch die Gedanken der Figuren wiedergeben. Die Techniken, die es ihm ermöglichen – und die ebenfalls zur Figurenrede gezählt werden – sind die erlebte Rede (in der 3. Person Singular Indikativ Präteritum gehalten) und der innere Monolog (in der 1. Person Singular Indikativ Präsens gehalten). „Die Extremform des inneren Monologs ist schließlich der Bewusstseinsstrom […]. Er stellt eine komplexe, oft amorphe Folge von assoziativen Bewusstseinsinhalten einer Figur dar, in denen Empfindungen, Ressentiments, Erinnerungen, sich überlagernde Reflexionen, Wahrnehmungen und subjektive Reaktionen auf Umwelteindrücke vor ihrer gedanklichen Ordnung durcheinander gleiten.“ (Ebenda: 189) ZUSAMMENFASSUNG Die Epik ist neben der Lyrik und dem Drama eine „traditionelle“ Literaturgattung. Die Wurzeln der europäischen Epik liegen im antiken Griechenland, wo einige der bedeutendsten Texte der europäischen Literaturgeschichte entstanden: die Epen Ilias und Odyssee von Homer. Das Epos war so erfolgreich, dass es bis ins 18. Jahrhundert als die epische Gattungsform schlechthin galt und der gesamten erzählenden Gattung den Namen gab. Auch die Versform, die für das Epos charakteristisch ist, wurde bis in die frühe Neuzeit der Prosa vorgezogen. Erst im 19. Jahrhundert etablierte sich der in Prosa verfasste Roman als die neue wichtigste epische Gattungsform und behielt diesen Status bis heute. Folglich wird die Epik alternativ als „Prosa“ oder „erzählende Prosa“ bezeichnet. Andere wichtige epische Gattungsformen sind die Novelle, die Erzählung, die Kurzgeschichte und die Fabel. SEKUNDÄRLITERATUR Das Kapitel arbeitet mit folgender Primärquelle:  Fielding, Henry (1883): Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Band 1. Stuttgart, S. 13-15. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004752333. Das Kapitel arbeitet mit folgender Sekundärliteratur:  Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart; Weimar. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 55  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld. Literarische Gattungen 3: Drama 56 8 LITERARISCHE GATTUNGEN 3: DRAMA EINLEITEND Das Kapitel beschäftigt sich mit dem Drama, das neben der Epik und der Lyrik zu den drei wichtigsten literarischen Gattungen gehört. Der Fokus liegt auf der Terminologie und dem formalen Aufbau der dramatischen Texte. Die theoretischen Begriffe werden anhand eines authentischen Textes erläutert. Der Studierende lernt auf diese Weise die dramatischen Texte analytisch zu lesen und eignet sich das Know-how für die Analyse dieser Texte an. ZIELE Das Kapitel will:  den Begriff „Drama“ definieren,  die wichtigsten Termini erläutern, deren Kenntnis für die Analyse dramatischer Texte notwendig ist,  den formalen Aufbau dramatischer Texte beschreiben,  die bedeutendsten Repräsentanten des deutschsprachigen Dramas nennen. SCHLÜSSELWÖRTER Drama, Schauspiel Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 57 MERKEN SIE SICH – DRAMA  Der Begriff „Drama“ geht auf das altgriechische Wort dráma zurück, das so viel wie Handlung bedeutet.  Unter dem Begriff „Drama“ versteht man in der Regel das Schauspiel. Das Gebäude, in dem Schauspiele gegeben werden, heißt Schauspielhaus. Theoretisch können auch Oper und Ballett zum Drama gerechnet werden (siehe den Begriff „Musikdrama“).  Das charakteristische Merkmal des Dramas ist die Abwesenheit des Erzählers und die daraus resultierende Unmittelbarkeit. Eine Ausnahme ist das epische Theater.  Ein Drama besteht aus dem Haupttext und dem Nebentext.  Der Haupttext wird von den Figuren gesprochen. Je nach der Rolle, welche die Figuren im Stück spielen, werden sie als Hauptfiguren oder Nebenfiguren be- zeichnet.  Die wichtigsten Formen der Figurenrede sind der Monolog und der Dialog.  Die Figuren reden entweder in Versen (Knittelvers, Alexandriner, Blankvers) oder in Prosa.  Im Vordergrund der Analyse des Dramas steht außer der Sprache und den Figuren der Handlungsverlauf. Hierbei werden untersucht: o 1. Zeitstruktur (siehe die Einheit der Zeit), o 2. Raumstruktur (siehe die Einheit des Ortes), o 3. Kompositionsstruktur (siehe die Einheit der Handlung).  Die Wurzeln des europäischen Dramas liegen im antiken Griechenland. Die bedeutendsten altgriechischen Dramatiker sind Aischylos, Sophokles und Euripides, die im 5. Jh. v. Chr. lebten. Der wichtigste altgriechische Gelehrte, der sich mit der Theorie des Dramas beschäftigte, ist Aristoteles, der im 4. Jh. v. Chr. lebte. Sein theoretisches Buch Poetik sollte noch in der Renaissance und im Klassizismus produktiv rezipiert werden.  Die bedeutendsten dramatischen Gattungsformen, die bereits in der Antike entstanden sind, sind die Tragödie (= das Trauerspiel) und die Komödie (= das Lustspiel). Für die Geschichte des deutschsprachigen Dramas sind außerdem das bürgerliche Trauerspiel, das Volksstück (im 20. Jh. das neue Volksstück), das epische Theater und das Dokumentartheater wichtig.  Die bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker sind Andreas Gryphius (1616- 1664), Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), Friedrich Schiller (1759-1805), Heinrich von Kleist (1777-1811), Georg Büchner (1813-1837) und Bertolt Brecht (1898-1956). Literarische Gattungen 3: Drama 58 FALLSTUDIE – AUTHENTISCHER TEXT Bertolt Brecht: Furcht und Elend des Dritten Reiches. Szene 2: Der Verrat Dort kommen die Verräter, sie haben Dem Nachbarn die Grube gegraben Sie wissen, daß man sie kennt. Vielleicht: die Straße vergisst nicht? Sie schlafen schlecht: noch ist nicht Aller Tage End. Breslau, 1933. Kleinbürgerwohnung. Eine Frau und ein Mann stehen an der Tür und horchen. Sie sind sehr blaß. DIE FRAU: Jetzt sind sie drunten. DER MANN: Noch nicht. DIE FRAU: Sie haben das Geländer zerbrochen. Er war schon bewußtlos, wie sie ihn aus der Wohnung geschleppt haben. DER MANN: Ich habe doch nur gesagt, daß das Radio mit den Auslandssendungen nicht von hier kam. DIE FRAU: Du hast doch nicht nur das gesagt. DER MANN: Ich habe nichts sonst gesagt. DIE FRAU: Schau mich nicht so an. Wenn du nichts sonst gesagt hast, dann hast du eben nichts sonst gesagt. DER MANN: Das meine ich auch. DIE FRAU: Warum gehst du nicht hin auf die Wache und sagst aus, daß sie keinen Besuch hatten am Samstag. Pause. DER MANN: Ich geh nicht auf die Wache. Das sind Tiere, wie sie mit ihm umgegangen sind. DIE FRAU: Es geschieht ihm recht. Warum mischt er sich in die Politik. DER MANN: Aber sie hätten ihm nicht die Jacke zu zerreißen brauchen. So dick hat es unsereiner nicht. DIE FRAU: Auf die Jacke kommt es doch nicht an. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 59 DER MANN: Sie hätten sie ihm nicht zerreißen brauchen. Quelle: http://www.rackwitz.users4.50megs.com/arbeitsblatt4.html (3.11.2014). *** Die blaumarkierten Passagen gehören zum Nebentext. Es handelt sich um die Regieanweisungen. Auch die Bezeichnungen der Figuren (DER MANN, DIE FRAU) können eventuell als Nebentext betrachtet werden. Die grünmarkierte Passage ist ein Gedicht bzw. ein Song, in dem die Handlung des Stücks mitsamt der Vorgeschichte zusammengefasst wird. Eine solche Zusammenfassung soll den Zuschauer in die Handlung einführen, die Figuren vorstellen und das Problem erläutern. Sie ist kein typischer Bestandteil eines dramatischen Textes. Sie ist ein episches Element, weil sie die gleiche Funktion wie der belehrende Kommentar des auktorialen Erzählers in einem epischen Text (z. B. einem Roman) hat. Brecht benutzt in seinen Stücken solche Kommentare häufig, weswegen seine Dramen als episches Theater bezeichnet werden. Der Haupttext (das, was die Figuren sagen = Figurenrede) ist in Prosa gehalten. Im deutschsprachigen Drama wird die Prosa bereits Ende des 18. Jahrhunderts (Literatur des Sturm und Drang) benutzt; als typische Sprache des Dramas setzt sich die Prosa allerdings erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge des Realismus und Naturalismus durch. Bis dahin wurden die Dramen fast obligatorisch in Versen geschrieben (Knittelvers, Alexandriner, Blankvers). Die Figuren führen einen Dialog (Zwiegespräch; würden dagegen mehr als zwei Figuren an der Unterredung teilnehmen, so müsste sie als Mehrgespräch bezeichnet werden). Schon in der Antike (Aristoteles) wurde der Dialog als Hauptkennzeichen des Dramas betrachtet. Der Monolog (ein Gespräch mit sich selbst bzw. eine Rede an ein gedachtes Gegenüber) kommt im vorliegenden Stück nicht vor. Monologe spielen in der Geschichte des Dramas eine wichtige Rolle, in den „klassischen“ Dramen (z. B. bei Shakespeare) dienen sie der Vermittlung von Gedanken und seelischen Vorgängen der Figuren an die Zuschauer. Die Realisten und Naturalisten hielten jedoch den dramatischen Monolog für allzu artifiziell und widernatürlich, und verzichteten auf ihn konsequent. Die Figuren sind nicht konkretisiert. Sie werden lediglich als Mann und Frau bezeichnet, ihre Namen, ihr Alter, ihr Beruf und ihre Vergangenheit bleiben im Dunklen; dem Nebentext und dem einleitenden Gedicht können zusätzlich entnommen werden: 1) ihr sozialer Status (sie sind Kleinbürger, weil sie in einer Kleinbürgerwohnung leben), 2) ihr Vergehen (sie haben einen Nachbarn denunziert). Brecht lässt die Figuren absichtlich anonym, damit sie als austauschbare Repräsentanten bestimmter sozialer Gruppen auftreten können. Solche Typisierung der Figuren war z. B. im expressionistischen Drama sehr verbreitet. Die Zeit-, Raum- und Kompositionsstruktur ist sehr einfach: Literarische Gattungen 3: Drama 60  Zeitstruktur: Die Handlung spielt an einem einzigen (nicht konkretisierten) Tag im Jahr 1933; sie wird chronologisch dargestellt; es gibt keine Zeitsprünge („zwei Tage später“ o. ä.).  Raumstruktur: Die Handlung spielt an einem einzigen Ort (in der Wohnung der beiden Figuren); es gibt keinen Wechsel zwischen verschiedenen Orten).  Kompositionsstruktur: Das Stück gliedert sich in keine kleineren Einheiten. Bei längeren Dramen wird untersucht, ob sie sich in kleinere Einheiten gliedern: Akte (auch Aufzüge genannt) – Szenen – Bilder. Brecht hält in dieser Szene – eher unbeabsichtigt – die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung ein. Die Einheit der Zeit schließt die Zeitsprünge aus, d.h. die Handlung soll an einem Tag spielen. Die Einheit des Ortes schließt den Ortswechsel aus, d.h. die Handlung soll an einem Ort spielen. Die Einheit der Handlung schließt Nebenhandlungen aus, d.h. die Handlung soll geradlinig, ohne Nebenepisoden, auf das Ende zulaufen. Diese drei Einheiten (auch Aristotelische Einheiten genannt) wurden in der Renaissance, dem Barock und dem Klassizismus strikt eingehalten, verloren aber Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung und wurden schließlich außer Kraft gesetzt. Im 20. Jahrhundert, als Brecht seine Stücke schrieb, galten die drei Einheiten definitiv als überholt. ZUSAMMENFASSUNG Das Drama ist neben der Epik und der Lyrik eine „traditionelle“ Literaturgattung. Die Wurzeln des europäischen Dramas liegen im antiken Griechenland, wo einige der bedeutendsten Dramatiker der europäischen Literaturgeschichte lebten: Aischylos, Sophokles und Euripides. Im alten Griechenland lebte auch der Gelehrte Aristoteles, der sich mit der Theorie des Dramas beschäftigte und dessen Schrift Poetik im 16. Jahrhundert wiederentdeckt und vor allem von den Klassizisten intensiv rezipiert werden sollte. Aristoteles definierte die Tragödie und Komödie, welche die bekanntesten dramatischen Gattungsformen sind. Andere für die deutschsprachige Literaturgeschichte wichtige dramatische Gattungsformen sind das bürgerliche Trauerspiel, das Volksstück und das epische Theater. Letzteres wurde im 20. Jh. von Bertolt Brecht kultiviert, der zusammen mit Goethe, Schiller und Büchner der wichtigste deutsche Dramatiker ist. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die Szenenfolge Furcht und Elend des Dritten Reiches, die als ein mustergültiges Beispiel für Brechts antiaristotelische Poetik gelten kann. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 61 SEKUNDÄRLITERATUR Das Kapitel arbeitet mit folgender Primärquelle:  http://www.rackwitz.users4.50megs.com/arbeitsblatt4.html (3.11.2014). Das Kapitel arbeitet mit folgender Sekundärliteratur:  Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart; Weimar.  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld. Methoden der Literaturwissenschaft 62 9 METHODEN DER LITERATURWISSENSCHAFT EINLEITEND Das Kapitel bringt eine Übersicht von Methoden, die in der Literaturwissenschaft von besonderer Bedeutung sind. Es werden die wichtigsten Merkmale und Repräsentanten der einzelnen Methoden genannt. Der Studierende sollte sich die einzelnen Methoden anschauen und – ggf. nach der Absprache mit dem Dozenten – für eine von ihnen entschei- den. ZIELE Das Kapitel will:  eine Übersicht von bedeutenden Methoden der Literaturwissenschaft bringen;  die wichtigsten Merkmale und Repräsentanten der einzelnen Methoden nennen. SCHLÜSSELWÖRTER Methode Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 63 MERKEN SIE SICH – METHODEN DER LITERATURWISSENSCHAFT Hermeneutik: • Die Hermeneutik suchte früher nach der richtigen Textinterpretation. • Die Hermeneutik sucht heute nach einer richtigen Textinterpretation (hermeneutischer Zirkel). • Die Hermeneutiker sind überzeugt von ihrer Überlegenheit über den Autor (das historische, das psychologische und das linguistische Argument). • Repräsentanten: Friedrich Schleiermacher, Manfred Frank. Formalismus: • Der Formalismus fokussiert sich auf die Analyse der sprachkünstlerischen Ge- staltungsmittel. • Die Formalisten streben nach Exaktheit und wissenschaftlicher Objektivität. Sie verzichten folglich auf inhaltliche Interpretationen. • Repräsentanten: Kurt May, Wolfgang Kayser. Positivismus und Biographismus: • Der Positivismus fokussiert sich auf quantifizierbare Fakten. Er interessiert sich für sämtliche Faktoren im Prozess der literarischen Kommunikation. • Die Positivisten streben nach Exaktheit und wissenschaftlicher Objektivität. Sie vernachlässigen dabei die Form und den Gehalt eines Textes. • Der Biographismus fokussiert sich auf Lebensdaten und Lebensumstände der Autoren. Er versucht anhand dieser Daten die Texte zu analysieren. • Repräsentant: Wilhelm Scherer. Sozialgeschichtliche Methode: • Die sozialgeschichtliche Methode fokussiert sich auf den sozialgeschichtlichen Kontext, in dem der analysierte Text entstanden ist. • Die Verfechter dieser Methode (vor allem Marxisten) fassen die Literatur als einen Schauplatz eines symbolischen Klassenkamfes (Auseinandersetzungen zwischen gegnerischen Klassen) auf. Sie stempeln die Texte als progressiv oder reaktionär ab. Methoden der Literaturwissenschaft 64 • Repräsentanten: Georg Lukács, Theodor W. Adorno. Poststrukturalismus: • Der Poststrukturalismus wurde vom Strukturalismus (Ferdinand de Saussure) vorweggenommen. • Das zentrale Thema des Strukturalismus ist die Bedeutung eines Wortes. Die grundlegende Feststellung ist, dass die Bedeutung des einzelnen Wortes von den Relationen zwischen allen bedeutungsverwandten Wörtern abhängt. • Die Gedanken von de Saussure wurden durch die Poststrukturalisten erweitert. Es entstanden der Dekonstruktivismus und der Lacanismus. Dekonstruktivismus: • Der Dekonstruktivismus geht davon aus, dass die Bedeutung eines Wortes von der Relation zu sämtlichen Wörtern abhängt. • Die Dekonstruktivisten sind von der permanent entgleitenden Bedeutung der Wörter überzeugt. Sie bestreiten, dass die Wörter eine feste Bedeutung haben. • Repräsentant: Jacques Derrida. Lacanismus: • Der Lacanismus geht davon aus, dass die Bedeutung eines Wortes von der Relation zu sämtlichen Wörtern abhängt. • Die Lacanisten sind davon überzeugt, dass der Sprachbenutzer individuelle Verknüpfungen zwischen den Wörtern herstellt. Sie weisen auf den im Text verborgenen Subtext hin. • Repräsentant: Jacques Lacan. Empirische Rezeptionsforschung: • Die empirische Rezeptionsforschung gibt eine detaillierte Antwort auf die Frage, wer welche Texte wo kauft, wann liest und wem empfiehlt. • Die empirische Rezeptionsforschung gibt nur eine unzureichende Antwort auf die Frage, welche Wirkung die literarischen Texte auf die Leser ausüben. • Repräsentant: Norbert Groeben. Rezeptionsästhetik: Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 65 • Die Rezeptionsästhetik fragt nach dem Ablauf des Rezeptionsvorlaufs und nach den vom Leser vollzogenen Schritten. • Die Rezeptionsästhetik geht von der Erkenntnis aus, dass Lesen ein aktiver Prozess ist, bei dem der Rezipient eine individuelle Interpretation eines Textes hervorbringt. Sie entdeckt den leserspezifischen „Erwartungshorizont“. • Repräsentanten: Hans Robert Jauss, Wolfgang Iser ZUSAMMENFASSUNG Zu den Methoden, die in der Literaturwissenschaft von besonderer Bedeutung sind, gehören: Hermeneutik, Formalismus, Positivismus, Biographismus, sozialgeschichtliche Methode, Dekonstruktivismus, Lacanismus, empirische Rezeptionsforschung und Rezeptionsästhetik. Der Studierende hat bei der Wahl „seiner“ Methode grundsätzlich freie Hand. Da von den Absolventen des Studienprogramms „Deutsch für den Beruf“ primär die Fähigkeit erwartet wird, literarische Texte in den historisch-sozialen Kontext einzuordnen und einer formal-inhaltlichen Analyse zu unterziehen, sollten vor allem die sozialgeschichtliche Methode und die Hermeneutik in Erwägung gezogen werden. Auch der vorliegenden Stütze, die dem Studierenden das Know-how für die Analyse von Einzeltexten vermitteln will, liegt die Hermeneutik zu Grunde. SEKUNDÄRLITERATUR Das Kapitel arbeitet mit folgender Sekundärliteratur:  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld. Übung zur Einzeltextanalyse I 66 10 ÜBUNG ZUR EINZELTEXTANALYSE I EINLEITEND Das Kapitel bringt einen authentischen Text, dessen Analyse der Studierende vornehmen sollte. Der Fokus der Analyse liegt auf der Form. Der Studierende sollte das Knowhow anwenden, das er sich in den vorangehenden Kapiteln angeeignet hat. In diesem Kapitel fehlen die Antworten auf die gestellten Fragen. Der Studierende analysiert den authentischen Text in Einzelarbeit, beantwortet die Fragen, schreibt eine Kurzinterpretation und schickt alles an den Seminarleiter. ZIELE Das Kapitel will:  den Studierenden die Möglichkeit geben, das Know-how für die Analyse von Einzeltexten anzuwenden und durch diese Anwendung zu festigen. SCHLÜSSELWÖRTER Übung Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 67 HAUSAUFGABE – ANALYSE EINES AUTHENTISCHEN TEXTES Georg Heym: Die Stadt Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein Zerreißet vor des Mondes Untergang. Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang Und blinzeln mit den Lidern, rot und klein. Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt, Unzählig Menschen schwemmen aus und ein. Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein Eintönig kommt heraus in Stille matt. Gebären, Tod, gewirktes Einerlei, Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei, Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei. Und Schein und Feuer, Fackeln rot und Brand, Die drohn im Weiten mit gezückter Hand Und scheinen hoch von dunkler Wolkenwand. Quelle: Heym, Georg (1964): Dichtungen und Schriften. Band 1. Hamburg/ München, S. 190-193. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000505818X. *** Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Zählen Sie die Verse und Strophen des Gedichts. Beschreiben Sie die Verteilung der Verse auf die Strophen. 2. Bestimmen Sie das Metrum, das Reimschema, die Reimart und die Kadenz. 3. Heym wendet in seinem Gedicht das sog. Enjambement (sog. Zeilensprung). Recherchieren Sie im Internet oder in der Fachliteratur, erklären Sie die Bedeutung dieses Begriffs und markieren Sie die Stellen in Heyms Gedicht, an denen das Enjambement vorkommt. 4. Bestimmen Sie die Gedichtform. Begründen Sie Ihre Entscheidung. 5. Recherchieren Sie im Internet oder in der Fachliteratur Informationen zum Leben und Werk von Georg Heym und schreiben Sie unter Einbeziehung der recherchierten Informationen eine Kurzinterpretation des Gedichts „Die Stadt“. Nehmen Sie in Ihre Kurzinterpretation auch die Antworten auf die vorstehenden Fragen auf. Übung zur Einzeltextanalyse I 68 ZUSAMMENFASSUNG Ziel des Kapitels besteht darin, das in den vorhergehenden Kapiteln angeeignete Know-how für die Analyse von lyrischen Texten anzuwenden und durch die Anwendung zu festigen. Lesen Sie den authentischen Text, beantworten Sie die Fragen zu ihm, schreiben Sie eine Kurzinterpretation und schicken Sie sie an den Seminarleiter. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 69 11 ÜBUNG ZUR EINZELTEXTANALYSE II EINLEITEND Das Kapitel bringt einen authentischen Text, dessen Analyse der Studierende vornehmen sollte. Der Fokus der Analyse liegt auf der Form. Der Studierende sollte das Knowhow anwenden, das er sich in den vorangehenden Kapiteln angeeignet hat. In diesem Kapitel fehlen die Antworten auf die gestellten Fragen. Der Studierende analysiert den authentischen Text in Einzelarbeit, beantwortet die Fragen, schreibt eine Kurzinterpretation und schickt alles an den Seminarleiter. ZIELE Das Kapitel will:  den Studierenden die Möglichkeit geben, das Know-how für die Analyse von Einzeltexten anzuwenden und durch diese Anwendung zu festigen. SCHLÜSSELWÖRTER Übung Übung zur Einzeltextanalyse II 70 HAUSAUFGABE – ANALYSE EINES AUTHENTISCHEN TEXTES Elisabeth Langgässer: Saisonbeginn Die Arbeiter kamen mit ihrem Schild und einem hölzernen Pfosten, auf den es genagelt werden sollte, zu dem Eingang der Ortschaft, die hoch in den Bergen an der letzten Passkehre lag. Es war ein heißer Spätfrühlingstag, die Schneegrenze hatte sich schon hinauf zu den Gletscherwänden gezogen. Überall standen die Wiesen wieder in Saft und Kraft; die Wucherblume verschwendete sich, der Löwenzahn strotzte und blähte sein Haupt über den milchigen Stengeln; Trollblumen, welche wie eingefettet mit gelber Sahne waren, platzten vor Glück, und in strahlenden Tümpeln kleinblütiger Enziane spiegelte sich ein Himmel von unwahrscheinlichem Blau. Auch die Häuser und Gasthöfe waren wie neu: ihre Fensterläden frisch angestrichen, die Schindeldächer gut ausgebessert, die Scherenzäune ergänzt. Ein Atemzug noch: dann würden die Fremden, die Sommergäste kommen – die Lehrerinnen, die mutigen Sachsen, die Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor allem die Autobesitzer in ihren großen Wagen… Röhr und Mercedes, Fiat und Opel, blitzend von Chrom und Glas. Das Geld würde anrollen. Alles war darauf vorbereitet. Ein Schild kam zum andern, die Haarnadelkurve zu dem Totenkopf, Kilometerschilder und Schilder für Fußgänger: Zwei Minuten zum Café Alpenrose. An der Stelle, wo die Männer den Pfosten in die Erde einrammen wollten, stand ein Holzkreuz, über dem Kopf des Christus war auch ein Schild angebracht. Seine Inschrift war bis heute die gleiche, wie sie Pilatus entworfen hatte: I.N.R.I. – die Enttäuschung darüber, dass es im Grunde hätte heißen sollen: er behauptet nur, dieser König zu sein, hatte im Lauf der Jahrhunderte an Heftigkeit eingebüßt. Die beiden Männer, welche den Pfosten, das Schild und die große Schaufel, um den Pfosten in die Erde zu graben, auf ihren Schultern trugen, setzten alles unter dem Wegkreuz ab; der dritte stellte den Werkzeugkasten, Hammer, Zange und Nägel daneben und spuckte ermunternd aus. Nun beratschlagten die drei Männer, an welcher Stelle die Inschrift des Schildes am besten zur Geltung käme; sie sollte für alle, welche das Dorf auf dem breiten Passweg betraten, besser: befuhren, als Blickfang dienen und nicht zu verfehlen sein. Man kam also überein, das Schild kurz vor dem Wegekreuz anzubringen, gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte. Leider stellte sich aber heraus, dass der Pfosten dann in den Pflasterbelag einer Tankstelle hätte gesetzt werden müssen – eine Sache, die sich von selbst verbot, da die Wagen, besonders die größeren, dann am Wenden behindert waren. Die Männer schleppten also den Pfosten noch ein Stück weiter hinaus bis zu der Gemeindewiese und wollten schon mit der Arbeit beginnen, als ihnen auffiel, dass diese Stelle bereits zu weit von dem Ortsschild entfernt war, das den Namen angab und die Gemeinde, zu welcher der Flecken gehörte. Wenn also das Dorf den Vorzug dieses Schildes und seiner Inschrift für sich beanspruchen wollte, musste das Schild wieder näher rücken – am besten gerade dem Kreuz gegenüber, so dass Wagen und Fußgänger zwischen beiden hätten passieren müssen. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 71 Dieser Vorschlag, von dem Mann mit den Nägeln und dem Hammer gemacht, fand Beifall. Die beiden anderen luden von neuem den Pfosten auf ihre Schultern und schleppten ihn vor das Kreuz. Nun sollte also das Schild mit der Inschrift zu dem Wegkreuz senkrecht stehen; doch es zeigte sich, dass die uralte Buche, welche gerade hier Äste mit riesiger Spanne nach beiden Seiten wie eine Mantelmadonna ihren Umhang entfaltete, die Inschrift im Sommer verdeckt und ihr Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens abgeschwächt hätte. Es blieb daher nur noch die andere Seite neben dem Herrenkreuz, und da die erste, die in das Pflaster der Tankstelle überging, gewissermaßen den Platz des Schächers zur Linken bezeichnet hätte, wurde jetzt der Platz zur Rechten gewählt und endgültig beibehalten. Zwei Männer hoben die Erde aus, der dritte nagelte rasch das Schild mit wuchtigen Schlägen auf; dann stellten sie den Pfosten gemeinsam in die Grube und rammten ihn rings von allen Seiten mit größeren Feldsteinen an. Ihre Tätigkeit blieb nicht unbeachtet. Schulkinder machten sich gegenseitig die Ehre streitig, dabei zu helfen, den Hammer, die Nägel hinzureichen und passende Steine zu suchen; auch einige Frauen blieben stehen, um die Inschrift genau zu studieren. Zwei Nonnen, welche die Blumenvase zu Füßen des Kreuzes aufs neue füllten, blickten einander unsicher an, bevor sie weitergingen. Bei den Männern, die von der Holzarbeit oder vom Acker kamen, war die Wirkung verschieden: einige lachten, andere schüttelten nur den Kopf, ohne etwas zu sagen; die Mehrzahl blieb davon unberührt und gab weder Beifall, noch Ablehnung kund, sondern war gleichgültig, wie sich die Sache auch immer entwickeln würde. Im ganzen genommen konnten die Männer mit der Wirkung zufrieden sein. Der Pfosten, kerzengerade, trug das Schild mit der weithin sichtbaren Inschrift, die Nachmittagssonne glitt wie ein Finger über die zollgroßen Buchstaben hin und fuhr jeden einzelnen langsam nach wie den Richtspruch auf einer Tafel… Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen: man merkte, sie ging ihn gleichfalls an, welcher bisher von den Leuten als einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden, würde sie ihm nun für lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen. Als die Männer den Kreuzigungsort verließen und ihr Handwerkszeug wieder zusammenpackten, blickten alle drei noch einmal befriedigt zu dem Schild mit der Inschrift auf. Sie lautete: „In diesem Kurort sind Juden unerwünscht.“ Quelle: Rötzer, Hans Gerd (1997): Literarische Texte verstehen und interpretieren. Eine Einführung für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 5 mit 10. Bd. 3. München, S. 60-64. *** Übung zur Einzeltextanalyse II 72 Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Bestimmen Sie das Genre des Textes. Begründen Sie Ihre Bestimmung. 2. Bestimmen Sie die Erzählsituation. Begründen sie Ihre Entscheidung. 3. Bestimmen Sie das Thema des Textes. 4. Langgässer arbeitet mit zahlreichen Motiven aus der Bibel (Kreuzigungsgeschichte). Finden und erklären Sie diese Motive. Recherchieren Sie Informationen im Internet oder in der Fachliteratur. 5. Recherchieren Sie im Internet oder in der Fachliteratur Informationen zum Leben und Werk von Elisabeth Langgässer und schreiben Sie unter Einbeziehung der recherchierten Informationen eine Kurzinterpretation des Textes Saisonbeginn. Leiten Sie Ihre Kurzinterpretation mit der Zusammenfassung des Plots ein. Nehmen Sie in Ihre Kurzinterpretation auch die Antworten auf die vorstehenden Fragen auf. ZUSAMMENFASSUNG Ziel des Kapitels besteht darin, das in den vorhergehenden Kapiteln angeeignete Know-how für die Analyse von epischen Texten anzuwenden und durch die Anwendung zu festigen. Lesen Sie den authentischen Text, beantworten Sie die Fragen zu ihm, schreiben Sie eine Kurzinterpretation und schicken Sie sie an den Seminarleiter. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 73 12 ÜBUNG ZUR EINZELTEXTANALYSE III EINLEITEND Das Kapitel bringt einen authentischen Text, dessen Analyse der Studierende vornehmen sollte. Der Fokus der Analyse liegt auf der Form. Der Studierende sollte das Knowhow anwenden, das er sich in den vorangehenden Kapiteln angeeignet hat. In diesem Kapitel fehlen die Antworten auf die gestellten Fragen. Der Studierende analysiert den authentischen Text in Einzelarbeit, beantwortet die Fragen, schreibt eine Kurzinterpretation und schickt alles an den Seminarleiter. ZIELE Das Kapitel will:  den Studierenden die Möglichkeit geben, das Know-how für die Analyse von Einzeltexten anzuwenden und durch diese Anwendung zu festigen. SCHLÜSSELWÖRTER Übung Übung zur Einzeltextanalyse III 74 HAUSAUFGABE – ANALYSE EINES AUTHENTISCHEN TEXTES Georg Büchner: Dantons Tod (Auszug aus dem 2. Akt) Ein Zimmer. Es ist Nacht. DANTON am Fenster. Will denn das nie aufhören? Wird das Licht nie ausglühn und der Schall nie modern? Will's denn nie still und dunkel werden, daß wir uns die garstigen Sünden einander nicht mehr anhören und ansehen? – September! – JULIE ruft von innen. Danton! Danton! DANTON. He? JULIE tritt ein. Was rufst du? DANTON. Rief ich? JULIE. Du sprachst von garstigen Sünden, und dann stöhntest du: September! DANTON. Ich, ich? Nein, ich sprach nicht; das dacht ich kaum, das waren nur ganz leise, heimliche Gedanken. JULIE. Du zitterst, Danton! DANTON. Und soll ich nicht zittern, wenn so die Wände plaudern? Wenn mein Leib so zerschellt ist, daß meine Gedanken unstet, umirrend mit den Lippen der Steine reden? Das ist seltsam. JULIE. Georg, mein Georg! DANTON. Ja, Julie, das ist sehr seltsam. Ich möchte nicht mehr denken, wenn das gleich so spricht. Es gibt Gedanken, Julie, für die es keine Ohren geben sollte. Das ist nicht gut, daß sie bei der Geburt gleich schreien wie Kinder; das ist nicht gut. JULIE. Gott erhalte dir deine Sinne! – Georg, Georg, erkennst du mich? DANTON. Ei warum nicht! Du bist ein Mensch und dann eine Frau und endlich meine Frau, und die Erde hat fünf Weltteile, Europa, Asien, Afrika, Amerika, Australien, und zwei mal zwei macht vier. Ich bin bei Sinnen, siehst du. – Schrie's nicht September? Sagtest du nicht so was? JULIE. Ja, Danton, durch alle Zimmer hört ich's. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 75 DANTON. Wie ich ans Fenster kam – Er sieht hinaus. die Stadt ist ruhig, alle Lichter aus ... JULIE. Ein Kind schreit in der Nähe. DANTON. Wie ich ans Fenster kam – durch alle Gassen schrie und zetert' es: Septem- ber! JULIE. Du träumtest, Danton. Faß dich! DANTON. Träumtest? Ja, ich träumte; doch das war anders, ich will dir es gleich sagen – mein armer Kopf ist schwach – gleich! So, jetzt hab ich's: Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung; ich hatte sie wie ein wildes Roß gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt ich in ihren Mähnen und preßt ich ihre Rippen, das Haupt abwärts gewandt, die Haare flatternd über dem Abgrund; so ward ich geschleift. Da schrie ich in der Angst, und ich erwachte. Ich trat ans Fenster – und da hört ich's, Julie. Was das Wort nur will? Warum gerade das? Was hab ich damit zu schaffen? Was streckt es nach mir die blutigen Hände? Ich hab es nicht geschlagen. – O hilf mir, Julie, mein Sinn ist stumpf! War's nicht im September, Julie? JULIE. Die Könige waren nur noch vierzig Stunden von Paris ... DANTON. Die Festungen gefallen, die Aristokraten in der Stadt ... JULIE. Die Republik war verloren. DANTON. Ja, verloren. Wir konnten den Feind nicht im Rücken lassen, wir wären Narren gewesen: zwei Feinde auf einem Brett; wir oder sie, der Stärkere stößt den Schwächeren hinunter – ist das nicht billig? JULIE. Ja, ja. DANTON. Wir schlugen sie – das war kein Mord, das war Krieg nach innen. JULIE. Du hast das Vaterland gerettet. DANTON. Ja, das hab ich; das war Notwehr, wir mußten. Der Mann am Kreuze hat sich's bequem gemacht: es muß ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt! – Es muß; das war dies Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! die Schwerter, mit denen Geister kämpfen – man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen. – Jetzt bin ich ruhig. Übung zur Einzeltextanalyse III 76 JULIE. Ganz ruhig, lieb Herz? DANTON. Ja, Julie; komm, zu Bette! Quellen: Büchner, Georg (1979): Werke und Briefe. Frankfurt a.M., S. 43-45. Abrufbar im Internet. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004637127. *** Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Bestimmen Sie den Haupttext und den Nebentext. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Haupttextes. 2. Dantons Tod von Georg Büchner gilt als ein hervorragendes Beispiel für das sog. offene Drama und als Vorläufer des sog. Dokumentardramas. Recherchieren Sie im Internet oder der Fachliteratur Informationen zu den beiden Dramentypen, fassen Sie ihre Merkmale kurz zusammen und versuchen Sie, diese Merkmale im vorstehenden Textbeispiel zu finden. 3. Die Titelfigur von Büchners Drama, der französische Revolutionär Georges Danton, wird als Fatalist dargestellt. Was heißt das und in welchen Passagen kommt Dantons Fatalismus besonders deutlich zum Ausdruck? 4. Recherchieren Sie im Internet oder in der Fachliteratur Informationen zum Leben und Werk von Georg Büchner und schreiben Sie unter Einbeziehung der recherchierten Informationen eine Kurzinterpretation der zitierten Szene aus Dantons Tod. Nehmen Sie in Ihre Kurzinterpretation auch die Antworten auf die vorstehenden Fragen auf. ZUSAMMENFASSUNG Ziel des Kapitels besteht darin, das in den vorhergehenden Kapiteln angeeignete Know-how für die Analyse von dramatischen Texten anzuwenden und durch die Anwendung zu festigen. Lesen Sie den authentischen Text, beantworten Sie die Fragen zu ihm, schreiben Sie eine Kurzinterpretation und schicken Sie sie an den Seminarleiter. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 77 13 ZUSAMMENFASSUNG EINLEITEND Das Kapitel fasst die in den einzelnen Kapiteln dieser Stütze vermittelten Informationen noch einmal zusammen. ZIELE Ziel des Kapitels besteht darin, mit Hilfe von kurzen Zusammenfassungen, die sich auf die in den einzelnen Kapiteln vermittelten Informationen beziehen, die wichtigsten Kenntnisse über die deutschsprachige Literatur und die Aspekte, unter denen sie untersucht werden kann, zu festigen. SCHLÜSSELWÖRTER Zusammenfassung Zusammenfassung 78 MERKEN SIE SICH – LITERATUR UND LITERARISCHE GATTUNGEN Abgrenzung des Begriffs „Literatur“ und Epochen der deutschsprachigen Litera- tur Der Begriff „Literatur“ ist heute sehr weit gefasst. Als literarisch gelten Texte, die zumindest eines von den folgenden Merkmalen aufweisen: Fixierung, künstlerische Sprachverwendung und Fiktionalität. – Die deutschsprachige Literatur wird historisch in mehrere Epochen gegliedert. Alle Epochenbezeichnungen wurden im Rückblick aufgrund der Gemeinsamkeiten einer bestimmten Textgruppe in einem bestimmten Zeitraum formuliert und vergeben. Figurenanalyse Literarische Figuren sind erdichtete Wesen, die sich ihrer selbst bewusst sind, sich gegenseitig wahrnehmen und untereinander interagieren. Sie können verschiedene Gestalten annehmen, sind aber immer vermenschlicht. Der soziale Raum, in dem sie sich bewegen, ist der realen menschlichen Gesellschaftsordnung nachgebildet. Je nach ihrer Wichtigkeit für den Handlungsverlauf werden sie in Hauptfiguren und Nebenfiguren gegliedert; je nach ihrer Wandlungs- und Entwicklungsfähigkeit werden sie in dynamische und statische Figuren gegliedert. Sie können individuell durchgezeichnet oder entindividualisiert, typisiert sein. Ihre soziale Mobilität ist für den Handlungsverlauf oft von eminenter Bedeutung und sollte bei der Figurenanalyse ebenfalls untersucht werden. Inhaltsanalyse Die Inhaltsanalyse erfolgt auf vier Ebenen: auf der Ebene des Themas, auf der Ebene des Stoffs, auf der Ebene des Motivs und auf der Ebene des Plots. Man verfährt dabei deduktiv und geht vom Allgemeinen zum Besonderen, d. h. vom Thema (die Grundidee des Textes) über den Stoff (eine literarisch bearbeitete Geschichte mit einer meist titelgebenden Hauptfigur) bis hin zum Motiv (die kleinste semantische Einheit, die als Baustein für den Stoff dient). Am Ende der Inhaltsanalyse steht die Darstellung des Plots, also des einzigartigen Handlungsverlaufs in einer konkreten Geschichte. Auch die Zeit- und Raumstruktur eines Textes ist Gegenstand der Inhaltsanalyse. Dabei wird untersicht, ob die Geschehnisse in Übereinstimmung der natürlichen Abfolge erzählt bzw. dargestellt werden, und an welchen Schauplätzen die Handlung situiert ist. Analyse des Versbaus Die literaturwissenschaftliche Disziplin, die den Versbau untersucht, heißt Metrik. Der Vers kann metrisch geordnet sein, d. h. er besteht aus einer bestimmten Anzahl von betonten und unbetonten Silben, die sich regelmäßig abwechseln. Ihre Kombinationen, die sich im Vers mehrmals wiederholen, werden Versfüße genannt und bilden das Versmaß Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 79 (das Metrum des Verses). Die Aufgabe der metrischen Analyse besteht darin, die Versfüße und das Versmaß zu beschreiben. Außerdem werden auch Kadenzen und Reime untersucht und die Versform wird bestimmt. Analyse der rhetorischen Stilmittel Ein wichtiges Kennzeichen der Literatursprache ist die geschmückte Rede. Diese zeichnet sich durch besondere, in den nicht-literarischen Texten nur selten anzutreffende Wörter, Wortverbindungen und Satzkonstruktionen aus, die als „Redeschmuck“ bezeichnet werden. Der Redeschmuck besteht aus den rhetorischen Stilmitteln, deren Gebrauch von der Stilistik analysiert wird. Die stilistische Analyse wird in der Regel auf fünf Ebenen durchgeführt: auf der Ebene der Laute und Silben (Suche nach onomatopoetischen Elementen), auf der Ebene des Wortes (Suche nach Besonderheiten im Vokabular und nach den Tropen), auf der Ebene des Satzes (Suche nach Besonderheiten in der Syntax und nach den rhetorischen Figuren), auf der Ebene des Textes (Untersuchung des Schwierigkeitsgrades, der Gliederung und der Handlungsdarstellung) und auf der Ebene des Textkorpus (Suche nach dem individuellen Stil eines Autor oder den Besonderheiten einer literaturgeschichtlichen Epoche). Literarische Gattungen I: Lyrik Die Lyrik ist neben der Epik und dem Drama eine „traditionelle“ Literaturgattung. Das war aber nicht von Anfang an so. Im antiken Griechenland, wo die Wurzeln der europäischen Lyrik liegen, galten nur diejenigen Texte als lyrisch, die zu einer begleitenden Leier (Lyra) vorgetragen wurden. Diese Texte wurden als Oden bezeichnet, was so viel wie „Gesang“ bedeutet. Auch Hymnen wurden zur Leier (Kithara) vorgetragen. Andere Texte, die heute als typische lyrische Gattungsformen gelten (z. B. das im mittelalterlichen Italien entstandene Sonett) wurden nicht für Bestandteile der Lyrik gehalten. Erst im 18. Jahrhundert wurden alle Texte, die in Versen geschrieben waren und angeblich spontane Aussagen über die subjektiven Gedanken und Gefühle ihrer Autoren enthielten, unter der „Lyrik“ subsumiert. Die Lyrik wurde zu einer Literaturgattung erklärt und behielt diesen Status bis heute. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als das lyrische Ich erfunden wurde, werden die lyrischen Texte allerdings nicht mehr als spontane Ausdrücke subjektiver Stimmungen, sondern als ein Rollenspiel betrachtet, in dem die Gefühle nur simuliert sind. Zu den bekanntesten lyrischen Gattungsformen gehören außer den in der Antike entwickelten Oden, Hymnen und Elegien das Lied, die Ballade und das Sonett. Literarische Gattungen II: Epik: Die Epik ist neben der Lyrik und dem Drama eine „traditionelle“ Literaturgattung. Die Wurzeln der europäischen Epik liegen im antiken Griechenland, wo einige der bedeutendsten Texte der europäischen Literaturgeschichte entstanden: die Epen Ilias und Odyssee von Homer. Das Epos war so erfolgreich, dass es bis ins 18. Jahrhundert als die epische Gattungsform schlechthin galt und der gesamten erzählenden Gattung den Namen gab. Auch die Versform, die für das Epos charakteristisch ist, wurde bis in die frühe Neu- Zusammenfassung 80 zeit der Prosa vorgezogen. Erst im 19. Jahrhundert etablierte sich der in Prosa verfasste Roman als die neue wichtigste epische Gattungsform und behielt diesen Status bis heute. Folglich wird die Epik alternativ als „Prosa“ oder „erzählende Prosa“ bezeichnet. Andere wichtige epische Gattungsformen sind die Novelle, die Erzählung, die Kurzgeschichte und die Fabel. Literarische Gattungen III: Drama: Das Drama ist neben der Epik und der Lyrik eine „traditionelle“ Literaturgattung. Die Wurzeln des europäischen Dramas liegen im antiken Griechenland, wo einige der bedeutendsten Dramatiker der europäischen Literaturgeschichte lebten: Aischylos, Sophokles und Euripides. Im alten Griechenland lebte auch der Gelehrte Aristoteles, der sich mit der Theorie des Dramas beschäftigte und dessen Schrift Poetik im 16. Jahrhundert wiederentdeckt und vor allem von den Klassizisten intensiv rezipiert werden sollte. Aristoteles definierte die Tragödie und Komödie, welche die bekanntesten dramatischen Gattungsformen sind. Andere für die deutschsprachige Literaturgeschichte wichtige dramatische Gattungsformen sind das bürgerliche Trauerspiel, das Volksstück und das epische Theater. Letzteres wurde im 20. Jh. von Bertolt Brecht kultiviert, der zusammen mit Goethe, Schiller und Büchner der wichtigste deutsche Dramatiker ist. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die Szenenfolge Furcht und Elend des Dritten Reiches, die als ein mustergültiges Beispiel für Brechts antiaristotelische Poetik gelten kann. Methoden der Literaturwissenschaft: Zu den Methoden, die in der Literaturwissenschaft von besonderer Bedeutung sind, gehören: Hermeneutik, Formalismus, Positivismus, Biographismus, sozialgeschichtliche Methode, Dekonstruktivismus, Lacanismus, empirische Rezeptionsforschung und Rezeptionsästhetik. Der Studierende hat bei der Wahl „seiner“ Methode grundsätzlich freie Hand. Da von den Absolventen des Studienprogramms „Deutsch für den Beruf“ primär die Fähigkeit erwartet wird, literarische Texte in den historisch-sozialen Kontext einzuordnen und einer formal-inhaltlichen Analyse zu unterziehen, sollten vor allem die sozialgeschichtliche Methode und die Hermeneutik in Erwägung gezogen werden. Auch der vorliegenden Stütze, die dem Studierenden das Know-how für die Analyse von Einzeltexten vermitteln will, liegt die Hermeneutik zu Grunde. ZUSAMMENFASSUNG Siehe oben. Miroslav Urbanec - Úvod do literatury 81 LITERATURA  Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph (2012): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart; Weimar.  Nünning, Ansgar (Hg.) (2004): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart / Weimar.  Schneider, Jost (2008): Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld.  Arnold, Heinz Ludwig (Hg.) (1996): Grundzüge der Literaturwissenschaft. Mün- chen.  Zymner, Rüdiger / Fricke, Harald (2007): Einübung in die Literaturwissenschaft. Parodieren geht über Studieren. Fünfte, überarbeitete und erweiterte Auflage. Pa- derborn. 82 SHRNUTÍ STUDIJNÍ OPORY Studijní opora seznámila studenty se základními pojmy literární vědy a s německou odbornou terminologií. Významnou roli sehrály v opoře autentické texty, tj. výňatky z německy psané literatury, s níž se budou studenti setkávat v průběhu celého dalšího studia a jejíž příklady budou číst a analyzovat v seminářích a domácích pracích. Na těchto autentických textech byly představeny jevy, jež by při literárněvědné analýze neměly být opomenuty, a zároveň byl studentům dán praktický příklad, jak tyto jevy uchopit a prozkoumat. Tato opora tak chce sloužit i jako praktická příručka pro studenty dalších semestrů, kteří v rámci literárněvědných seminářů pracují na analýze vybraných literárních textů a potřebují rychle poradit, na co se mají ve své analýze zaměřit a jak mají při popisu jednotlivých jevů (obsah, postavy, rétorické stylistické prostředky) postupovat. Pro studenty, kteří by se rádi dozvěděli více, je určen závěrečný seznam literatury, jenž obsahuje nejen odborné publikace konzultované při práci na této opoře, ale také další odborné tituly tohoto zaměření. Název: Úvod do literatury Autor: Mgr. Miroslav Urbanec, Ph.D. Vydavatel: Slezská univerzita v Opavě Filozoficko-přírodovědecká fakulta v Opavě Určeno: studentům SU FPFOpava Počet stran: 83 Tato publikace neprošla jazykovou úpravou.