TEXTINTERPRETATION UNTER GATTUNGSANALYTISCHEN ASPEKTEN Studijní opora Opava 2017 Obsah Obsah.......................................................................................................................................... 2 Popis předmětu........................................................................................................................... 3 Sylabus předmětu ....................................................................................................................... 4 Požadavky na studenta ............................................................................................................... 5 Doporučená literatura................................................................................................................. 6 Způsob komunikace s vedoucím semináře................................................................................. 7 Lektion 1: Einführung in die Analyse der Lyrik........................................................................ 8 Lektion 2: Analyse der Lyrik ................................................................................................... 13 Lektion 3: Analyse der Lyrik ................................................................................................... 16 Lektion 4: Analyse der Lyrik ................................................................................................... 18 Lektion 5: Einführung in die Analyse der Epik ....................................................................... 19 Lektion 6: Analyse der Epik..................................................................................................... 22 Lektion 7: Analyse der Epik..................................................................................................... 25 Lektion 8: Analyse der Epik..................................................................................................... 27 Lektion 9: Einführung in die Analyse des Dramas .................................................................. 29 Lektion 10: Analyse des Dramas ............................................................................................. 32 Lektion 11: Analyse des Dramas ............................................................................................. 38 Lektion 12: Analyse des Dramas ............................................................................................. 40 Okruhy ke zkoušce................................................................................................................... 41 Popis předmětu Cílem semináře je prohloubit schopnost studentů pracovat s literárním textem a analyzovat jej po formální a obsahové stránce. Zvláštní pozornost je přitom věnována problematice literárních druhů a jejich specifikům. Analyzovány budou texty všech literárních druhů, a to jak kompletní texty, tak úryvky. Sylabus předmětu Téma lekce Termín semináře1 Kontrola úkolů2 Lekce 1 Analýza lyriky (úvod) Lekce 2 Analýza lyriky Lekce 3 Analýza lyriky Lekce 4 Analýza lyriky Lekce 5 Analýza epiky (úvod) Lekce 6 Analýza epiky Lekce 7 Analýza epiky Lekce 8 Analýza epiky Lekce 9 Analýza dramatu (úvod) Lekce 10 Analýza dramatu Lekce 11 Analýza dramatu Lekce 12 Analýza dramatu Ukončení předmětu Ústní zkouška 1 Bude upřesněno. 2 Bude upřesněno. Požadavky na studenta Podmínkou pro absolvování předmětu je úspěšné vykonání ústní zkoušky, pravidelná docházka do seminářů a aktivní spolupráce v seminářích. Student je povinen zpracovat všechny texty, které jsou předmětem analýzy v jednotlivých lekcích, a to buď přímo v semináři, nebo doma, podle pokynů vedoucího semináře. Portfolio s vypracovanými úkoly je podkladem závěrečné zkoušky, která probíhá formou diskuze nad analyzovanými texty. Doporučená literatura Asmuth, B.: Einführung in die Dramenanalyse, 8. Aufl. Stuttgart 2016 Knörrich, O.: Lexikon lyrischer Formen. Stuttgart, 2005. Lahn, S. / Meister, J. Ch.: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart / Weimar, 2008. Müller, O.: Einführung in die Lyrik-Analyse. Darmstadt, 2011. Schneider, Jost: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld 2008. Stanzel, F. K.: Welt als Text. Grundbegriffe der Interpretation. Würzburg, 2011. Wagner, K. (Hrsg.): Moderne Erzähltheorie. Grundlagentexte von Henry James bis zur Gegenwart. Wien, 2002. Způsob komunikace s vedoucím semináře Všechny potřebné informace k obsahu a průběhu semináře obdrží studenti během úvodní hodiny. Následná komunikace probíhá především elektronickou formou nebo v konzultačních hodinách vedoucího semináře. Případné otázky k jednotlivým lekcím a úkolům zodpovídá vedoucí semináře elektronicky nebo osobně v konzultačních hodinách. Kontakt na vedoucího semináře: miroslav.urbanec@fpf.slu.cz Lektion 1: Einführung in die Analyse der Lyrik Grundbegriffe Auffassung der Lyrik: • Lyrik als eine emotional-subjektive Gattung, in der das Individuum seine Gefühle und Empfindungen zum Ausdruck bringt (Herder, Hegel). • Lyrik als eine Art Rollenspiel, das es dem Autor erlaubt, bestimmte Gefühlslagen oder Bewusstseinszustände zu simulieren (20. Jahrhundert). – Seit 1910 Existenz des Terminus „lyrisches Ich“ (Margarete Susman: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik). Merkmale der Lyrik: • Fiktionalität (keine unmittelbare Aussprache eines Subjektes, sondern die Rollenrede eines „lyrischen Ichs“). • Spezifisches äußeres Erscheinungsbild (Verse, Strophen): – Vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, Stuttgart 1993. Metrik (Verselehre): 1. Die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der gebundenen Sprache, vor allem mit deren Gliederung in Verse und Strophen befasst, heißt Metrik (Verslehre). 2. In der Metrik geht es primär um die Feststellung, ob eine bestimmte Silbe betont oder unbetont ist. 3. Betonte Silben bezeichnet man als Hebungen, unbetonte Silben als Senkungen. 4. Unter Hebungen und Senkungen versteht man in der Metrik grundsätzlich Sprechsilben (keine grammatischen Silben!). Silben Silbentrennung: 1. Grammatische Silbentrennung (neue Rechtschreibung): Lea will Os-tern an die Adria/ A-dria. (8 Silben) 2. Metrische Silbentrennung: Le-a will Os-tern an die A-dri-a. (10 Silben) Identifikation der metrisch relevanten Sprechsilben: 1. Die Anzahl der metrisch relevanten Sprechsilben entspricht fast immer der Anzahl der artikulierten Vokale. 2. Beispiele: 1. Raum: 1 Silbe (ein artikulierter Vokal). 2. leer: 1 Silbe (ein artikulierter Vokal). 3. Soest: 1 Silbe (ein artikulierter Vokal). Fixierung der Sprechsilben: Le-a will Os-tern an die A-dri-a. x x x x x x x x x x * Betonung Regeln der natürlichen Betonung: 1. Deutsche Sprache neigt zur Anfangsbetonung. 2. Von dieser Grundregel weichen ab: 1. unbetonte Vorsilben: „be-“, „ge-“, „ver-“, „zer-“ etc., 2. Abkürzungen: EKG, USA etc., 3. Namen und Fremdwörter. 3. Besondere Vorsicht ist geboten bei: 1. sehr alten Wörtern, die im Laufe der Jahrhunderte ihre Betonung verändert haben: lébendig – lebéndig, 2. vielen einsilbigen Wörtern, die je nach Kontext mal betont und mal unbetont sind: „Wér holt ihn?“/ „Wer hólt ihn?“/ „Wer holt íhn?“ Fixierung der Betonung: Le-a will Os-tern an die A-dri-a. x´ x x x´ x x´ x x´ x x * Beschreibungskonventionen in der Metrik Versfüße: 1. Betonte und unbetonte Silben wechseln sich häufig in einer ganz bestimmten Reihenfolge ab. 2. Seit der Antike werden bestimmte Kombinationen von betonten und unbetonten Silben mit eigenen Namen versehen. 3. Diese Kombinationen werden als Versfüße bezeichnet. Versfüße, die in der deutschen Literatur vorkommen: 1. Jambus (xx´), Beispiel: jawohl. 2. Trochäus (x´x), Beispiel: trocken. 3. Daktylus (x´xx), Beispiel: dämmerig, Daktylus. 4. Anapäst (xxx´), Beispiel: analog. 5. Amphibrachys (xx´x), Beispiel: amphibisch. Beschreibung von Textzeilen: 1. Eine vierhebige jambische Zeile (vier Hebungen in vier Jamben: xx´xx´xx´xx´). 2. Eine dreihebige trochäische Zeile (drei Hebungen in drei Trochäen: x´x x´x x´x). 3. Eine vierhebige anapästische Zeile (vier Hebungen in vier Anapästen: xxx´xxx´xxx´xxx´). 4. Eine Zeile mit der Betonung auf der letzten Silbe wird als männliche Zeile (auch stumpfe Kadenz) bezeichnet. 5. Eine Zeile ohne die Betonung auf der letzten Silbe wird als weibliche Zeile (auch klingende Kadenz) bezeichnet. * Reim Der Reim ist eine Verbindung von Wörtern mit ähnlichem Klang bzw. der Gleichklang eines betonten Vokals und der ihm folgenden Laute bei verschiedenem Anlaut. Nach der Stellung im unterscheidet man drei Reimformen: 1. Anfangsreim 2. Binnenreim 3. Endreim Nach phonologischer Struktur unterscheidet man zwei Reimformen: 1. Reiner Reim: klangliche Gleichheit ab dem Vokal der letzten betonten Silbe (Schicksalsstück – Lebensglück). 2. Unreiner Reim: keine Klanggleichheit, sondern nur eine lautliche Ähnlichkeit (Schicksalsstück – Liebesblick). Nach der Silberzahl unterscheidet man vier Reimformen: 1. Männlicher Reim (stumpfe Kadenz): einsilbig; die Zeile endet auf einer betonten Silbe (Rat – Tat). 2. Weiblicher Reim (klingende Kadenz): zweisilbig; beide Zeilen reimen auf zwei Silben, deren erste betont ist (wollte – sollte). 3. Gleitender Reim (reicher Reim): dreisilbig; beide Zeilen reimen auf drei Silben, deren erste betont ist (prächtige – mächtige). 4. Erweiterter Reim: vielsilbig; beide Zeilen reimen mehr als drei Silben. Reimschemata: 1. Paarreim: aa bb cc. 2. Kreuzreim: abab cdcd. 3. Umarmender Reim: abba cddc. 4. Schweifreim: aab ccb ddb. Halbreime: 1. Bei den Halbreimen ähneln sich die Wörter nur in einzelnen Lauten. 2. Unter den Halbreimen unterscheidet man: a. Assonanz: nur die Vokale, aber nicht die Konsonanten stimmen überein (wagen – laben). b. Alliteration: mehrere aufeinander folgende Wörter besitzen den gleichen Anlaut („Milch macht müde Männer munter.“). * Strophen Die Strophen sind Versgruppen, die in Verszahl, Versmaß und Reimordnung (weitgehend) übereinstimmen. Versgruppen von unterschiedlicher Länge und ohne wiederkehrende metrische Struktur werden als „Freie Strophen“ bezeichnet. * Literarische Gattungsformen Ode: • Zusammensetzung aus gleichgebauten Odenstrophen. • Eine sehr feierliche Wirkung. • Friedrich Gottlieb Klopstock: An Fanny, Der Zürchersee; Friedrich Hölderlin: An die Deutschen, Heidelberg; August von Platen: Einladung nach Sorrent, Der bessere Teil. Hymne: • Zusammensetzung aus Odenstrophen oder aus freien Versgruppen. • Ein begeisterter Lobgesang. • Friedrich Gottlieb Klopstock: Dem Allgegenwärtigen; Johann Wolfgang Goethe: Ganymed; Friedrich Hölderlin: Der Einzige; Novalis: Hymnen an die Nacht. Elegie: • Ein Gedicht in klagendem, wehmütigem Ton. • Ein Gedicht beliebigen Inhalts in der äußeren Form von Distichen. • Friedrich Gottlieb Klopstock: Elegie; Johann Wolfgang Goethe: Römische Elegien; Friedrich Hölderlin: Brot und Wein; Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien; Bertolt Brecht: Buckower Elegien. Sonett: • Ein strenger Aufbau: 14 Zeilen mit Endreimen, meistens sechs- oder fünfhebige jambische Zeilen mit einem variierenden Reimschema. • Unterschied zwischen dem Petrarca-Sonett und dem Shakespeare-Sonett. • Andreas Gryphius: Es ist alles eitel, August Wilhelm Schlegel, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Rainer Kirsch. Romanze: • Zusammensetzung aus mehreren Romanzenstrophen. • Verzicht auf die traditionelle Romanzenstrophe in einigen deutschen Romanzen (z.B. Friedrich Schiller: Der Kampf mit dem Drachen). • Ursprünglich ein erzählendes Preislied. • Seit dem 19. Jahrhundert für parodistische Zwecke verwendet (z.B. Heinrich Heine: Atta Troll). Ballade: • Existenz in zwei Erscheinungsformen: als Volksballade und als Kunstballade. • Gliederung der Kunstballade in die „numinose Ballade“ (Johann Wolfgang Goethe: Erlkönig) und die „Ideenballade“ (Friedrich Schiller: Der Handschuh). • Später Entstehung der politisch-sozialen Kunstballade (Bertolt Brecht: Kinderkreuzzug). Lied: • Existenz in zwei Erscheinungsformen: als Volkslied und als Kunstlied. • Beispiele für das Volkslied sind in den Liederbüchern gesammelt (Achim von Arnim, Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn). • Autoren der Kunstlieder: Matthias Claudius (Der Mond ist aufgegangen), Johann Wolfgang Goethe (Sah ein Knab ein Röslein stehn), Heinrich Heine (Ich weiß nicht, was soll es bedeuten). Figurengedicht: • Ein Mischkunstwerk: eine Kombination der literarischen und graphisch-malerischen Gestaltungstechniken. • Frühe Beispiele sind aus dem Barockzeitalter (Philipp von Zesen) und aus der Antike (Theokrit) bekannt. • Moderne Beispiele sind aus der visuellen Dichtung der Dadaisten (Hugo Ball) und der „konkreten Poesie“ (Ernst Jandl) bekannt. * Quelle: Der vorstehende Text ist ein Auszug aus: • Schneider, Jost: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld 2008, S. 71-87 und 126-151. Lektion 2: Analyse der Lyrik Andreas Gryphius: Tränen des Vaterlandes, anno 1636 Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr dann ganz verheeret. Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun, Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Kartaun Hat allen Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret. Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret, Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun, Die Jungfern sind geschändt, und wo wir hin nur schaun, Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret. Hier durch die Schantz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut. Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut Von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen. Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod, Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot: Dass auch der Seelenschatz so vielen abgezwungen. Quelle: Simm, Hans-Joachim (Hg.): Deutsche Gedichte, Frankfurt am Main und Leipzig, 2. Auflage, 2001. Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Gedichts (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen). 2. Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zum Leben und Werk des Autors sowie zur Entstehungszeit des Gedichts. 3. Schreiben Sie unter Einbeziehung der recherchierten Informationen eine Interpretation des Gedichts. Johannes R. Becher: Tränen des Vaterlandes Anno 1937 I O Deutschland! Sagt, was habt aus Deutschland ihr gemacht?! Ein Deutschland stark und frei?! Ein Deutschland hoch in Ehren?! Ein Deutschland, drin das Volk sein Hab und Gut kann mehren, Auf aller Wohlergehn ist jedermann bedacht?! Erinnerst du dich noch des Rufs: »Deutschland erwacht!«? Als würden sie dich bald mit Gaben reich bescheren, So nahmen sie dich ein, die heute dich verheeren. Geschlagen bist du mehr denn je in einer Schlacht. Dein Herz ist eingeschrumpft. Dein Denken ist mißraten. Dein Wort ward Lug und Trug. Was ist noch wahr und echt?! Was Lüge noch verdeckt, entblößt sich in den Taten: Die Peitsche hebt zum Schlag ein irrer Folterknecht, Der Henker wischt das Blut von seines Beiles Schneide O wieviel neues Leid zu all dem alten Leide! II Du mächtig deutscher Klang: Bachs Fugen und Kantaten! Du zartes Himmelsblau, von Grünewald gemalt! Du Hymne Hölderlins, die feierlich uns strahlt! O Farbe, Klang und Wort: geschändet und verraten! Gelang es euch noch nicht, auch die Natur zu morden?! Ziehn Neckar und der Rhein noch immer ihren Lauf? Du Spielplatz meiner Kindheit: wer spielt wohl heut darauf Schwarzwald und Bodensee, was ist aus euch geworden? Das vierte Jahr bricht an. Um Deutschland zu beweinen, Stehn uns der Tränen nicht genügend zu Gebot, Da sich der Tränen Lauf in so viel Blut verliert. Drum, Tränen, haltet still! Laßt uns den Haß vereinen, Bis stark wir sind zu künden: »Zu Ende mit der Not!« Dann: Farbe, Klang und Wort! Glänzt, dröhnt und jubiliert! Quelle: http://www.gabrieleweis.de/2-bldungsbits/literaturgeschichtsbits/thema-heimatverlustexil/becher.htm#_ftn1 (5.10.2013). Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form der einzelnen Gedichte (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen). 2. Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zum Leben und Werk der Autoren sowie zur Entstehungszeit der einzelnen Gedichte. 3. Schreiben Sie unter Einbeziehung der recherchierten Informationen eine Interpretation der einzelnen Gedichte. 4. Vergleichen Sie die analysierten Gedichte mit dem oben zitierten Gedicht von Andreas Gryphius. Stellen Sie die Berührungspunkte und Unterschiede fest. Lektion 3: Analyse der Lyrik Johann Wolfgang Goethe: Prometheus Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst, Und übe, dem Knaben gleich, Der Disteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöhn; Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn Und meine Hütte, die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest. Ich kenne nichts Ärmeres Unter der Sonn als euch, Götter! Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät Und darbtet, wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren. Da ich ein Kind war, Nicht wußte, wo aus noch ein, Kehrt ich mein verirrtes Auge Zur Sonne, als wenn drüber wär Ein Ohr, zu hören meine Klage, Ein Herz wie meins, Sich des Bedrängten zu erbarmen. Wer half mir Wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich, Von Sklaverei? Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz? Und glühtest jung und gut, Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden da droben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet Je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herrn und deine? Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehen, Weil nicht alle Blütenträume reiften? Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich! Quelle: Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 327-329. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000484081X Lizenz: Gemeinfrei. Kategorien: Literatur · Gedicht · Deutsche Literatur. Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Gedichts (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen). 2. Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zum Leben und Werk des Autors sowie zur Entstehungszeit des Gedichts. 3. Schreiben Sie unter Einbeziehung der recherchierten Informationen eine Interpretation des Gedichts. Lektion 4: Analyse der Lyrik Georg Heym: Der Gott der Stadt Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. Die Winde lagern schwarz um seine Stirn. Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit Die letzten Häuser in das Land verirrn. Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal, Die großen Städte knien um ihn her. Der Kirchenglocken ungeheure Zahl Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer. Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik Der Millionen durch die Straßen laut. Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut. Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. Die Stürme flattern, die wie Geier schauen Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt. Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust. Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt. Quelle: Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Band 1, Hamburg, München 1960 ff., S. 190-193. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005057736 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Gedicht · Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Gedichts (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen). 2. Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zum Leben und Werk des Autors sowie zur Entstehungszeit des Gedichts. 3. Schreiben Sie unter Einbeziehung der recherchierten Informationen eine Interpretation des Gedichts. Lektion 5: Einführung in die Analyse der Epik Grundbegriffe Merkmale der Epik: • Charakteristisches Merkmal der Epik ist die Mittelbarkeit der Darstellung (Existenz eines Erzählers). • Zentraler Gegenstand der Narrativik (Erzählforschung) ist die Analyse von Erzählsituationen. – Franz Karl Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman, Wien u. Stuttgart 1955. Erzählsituationen und Erzählformen: • Erzählsituationen nach F. K. Stanzel: – Auktoriale Erzählsituation – Personale Erzählsituation – Ich-Erzählsituation • Zusätzlich: – Neutrale Erzählsituation • Erzählformen: – Er-Form – Ich-Form Auktoriale Erzählsituation: • Darstellung aus der Sicht des Autors (auktorialer = allwissender Erzähler). • Typische Merkmale sind: Er-Form als vorherrschende Erzählform, berichtende Erzählweise, selbstreflexive Wendungen. Personale Erzählsituation: • Darstellung aus der Sicht einer bestimmten Figur (Reflektorfigur), aber keine Identifizierung des Erzählers mit dieser Figur. • Typische Merkmale sind: Er-Form als vorherrschende Erzählform, Erzählung aus der Innenperspektive der Reflektorfigur, eingeschränktes Wissen über den Anfang und Verlauf der Geschehnisse, eingeschränkter Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt anderer Figuren. – Wiedergabe der Figurengedanken durch die sog. erlebte Rede (in der dritten Person und im Präteritum sowie überwiegend im Indikativ gehalten). Ich-Erzählsituation: • Identifizierung des Erzählers mit einer Figur. • Typische Merkmale sind: Darstellung subjektiver Gefühlszustände, Meinungen und Sichtweisen der ausgewählten Figur, Gebrauch der direkten Rede, Abwesenheit einer kritischen Distanz zu dem Erzählten, eingeschränktes Wissen des Erzählers über den Anfang und Verlauf der Geschehnisse, eingeschränkter Einblick des Erzählers in die Gefühls- und Gedankenwelt anderer Figuren. – Wiedergabe des Gedankenflusses durch den „inneren Monolog“ (in der ersten Person und im Präsens gehalten) oder den Bewusstseinsstrom. Neutrale Erzählsituation: • Darstellung aus der Sicht eines neutralen Beobachters außerhalb der Figurenwelt. • Typische Merkmale sind: Er-Form als vorherrschende Erzählform, objektives Registrieren der Vorgänge, Verzicht des Erzählers auf Kommentare, Reflexionen und Beurteilungen sowie auf direkte Figurencharakterisierungen und Erläuterungen von Zusammenhängen. – Gebrauch des szenischen Sprechens zur Selbstcharakterisierung der Figuren. * Epische Gattungsformen Epos: • Langer Erzähltext in gleichgebauten Versen und Strophen. • Ernster, feierlicher Charakter; seit der Renaissance sind auch komische Epen möglich. • Beispiele: Gilgamesch-Epos, die Epen von Homer (Ilias, Odyssee) und Vergil (Aeneis), in der deutschen Literatur die Epen von F. G. Klopstock (Messias) oder J. W. Goethe (Hermann und Dorothea), satirische Epen von H. Heine (Atta Troll. Ein Sommernachtstraum; Deutschland. Ein Wintermärchen). Volksbuch: • Lange Prosaerzählung aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. • Prosaauflösung bekannter Epen (Nibelungensage etc.); im 16. Jahrhundert kommt es zu einer Wendung zum Satirisch-Humoristischen (Eulenspiegel). • Im 19. Jahrhundert werden viele Volksbücher durch Dichter oder Philologen bearbeitet, seitdem gehören sie zum Kanon der Kinder- und Jugendliteratur. Roman: • Langer oder sehr langer Erzähltext in Prosa, seltener in Versen. • Entstehung in der Antike; gegen Ende des 18. Jahrhunderts entsteht der moderne (deutsche) Roman. – Darstellung von alltäglich-bürgerlichen Helden mit nachvollziehbaren Gedanken und Empfindungen. • Existenz von populären Spielarten wie z.B. dem Kriminal-, dem Abenteuer- oder dem Heimatroman sowie von anspruchsvollen, erzähltechnisch innovativen Romanen (z.B. Ulysses von James Joyce, Manhattan Transfer von John Dos Passos). Erzählung: • Epischer Prosatext von mittlerer Länge. • Sehr vielgestaltig (es ist nicht möglich, bestimmte inhaltliche Erkennungsmerkmale festzulegen). Novelle: • Eine Sonderform der Erzählung. • Typische Merkmale: – ein einziger zentraler Konflikt als Thema, – eine „unerhörte Begebenheit“ als Auslöser des Konflikts, – kein offenes Ende, – realistischer Darstellungsstil, – Gebrauch eines Rahmens (Rahmenerzählung und Binnenerzählung). • Beispiele: Decamerone (G. Boccaccio), Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (J. W. Goethe), Serapionsbrüder (E. T. A. Hoffmann). Märchen: • Kürzerer Text ohne einen konkreten Zeit- und Ortsbezug. • Darstellung des Kampfes des Guten mit dem Bösen. • Existenz in zwei Erscheinungsformen: – Volksmärchen: anonym, mündlich tradiert, seit Anfang des 19. Jahrhunderts literarisch reflektiert (Jakob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen). – Kunstmärchen: hochliterarisch, vor allem in der Romantik beliebt (Clemens Brentano, E. T. A. Hoffmann). Sage: • Anonymer, märchenähnlicher Text mit einem konkretem Zeit- und Ortsbezug. • Versuch einer volkstümlich-mythologischen, nicht-rationalen „Begründung“ ungewöhnlicher geschichtlicher Vorgänge oder Naturphänomene. Anekdote: • Kurzer Texte mit witzartiger Schlusspointe. • Darstellung eines charakteristischen Wesenszugs prominenter historischer Persönlichkeiten oder eines Menschen in einer außergewöhnlichen Situation. • Autoren: Sebastian Brant, Grimmelshausen, Matthias Claudius, vor allem Heinrich von Kleist. Kurzgeschichte: • Kurzer, novellenähnlicher Text. • Typische Merkmale: – plötzlicher Anfang und offenes Ende, – Typisierung der Figuren, – Verzicht auf die Konkretisierung von erzählter Zeit und Handlungsschauplätzen, – gelegentliche Abkehr vom realistischen Erzählstil. • Autoren: Franz Kafka, Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Ilse Aichinger. * Quellen: Der vorstehende Text ist ein Auszug aus: • Schneider, Jost: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld 2008, S. 152-176. • Wikipedia: Typologisches Modell der Erzählsituationen. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Erz%C3%A4hlsituation (8.11.2012). • Buch-Schreiben. URL: http://www.buch-schreiben.net/autoren_hilfe/55-DerErzaehler-und-seine-Perspektiven.htm (Abgerufen am 26.12.2012). Lektion 6: Analyse der Epik Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts (Auszug) Als endlich die Nacht hereinbrach, nahm ich mein Körbchen an den Arm und machte mich auf den Weg nach dem großen Garten. In dem Körbchen lag alles so bunt und anmutig durcheinander, weiß, rot, blau und duftig, daß mir ordentlich das Herz lachte, wenn ich hineinsah. Ich ging voller fröhlicher Gedanken bei dem schönen Mondschein durch die stillen, reinlich mit Sand bestreuten Gänge über die kleinen weißen Brücken, unter denen die Schwäne eingeschlafen auf dem Wasser saßen, an den zierlichen Lauben und Lusthäusern vorüber. Den großen Birnbaum hatte ich gar bald aufgefunden, denn es war derselbe, unter dem ich sonst, als ich noch Gärtnerbursche war, an schwülen Nachmittagen gelegen. Hier war es so einsam dunkel. Nur eine hohe Espe zitterte und flüsterte mit ihren silbernen Blättern in einem fort. Vom Schlosse schallte manchmal die Tanzmusik herüber. Auch Menschenstimmen hörte ich zuweilen im Garten, die kamen oft ganz nahe an mich heran, dann wurde es auf einmal wieder ganz still. Mir klopfte das Herz. Es war mir schauerlich und seltsam zumute, als wenn ich jemand bestehlen wollte. Ich stand lange Zeit stockstill an den Baum gelehnt und lauschte nach allen Seiten, da aber immer niemand kam, konnt ich es nicht länger aushalten. Ich hing mein Körbchen an den Arm und kletterte schnell auf den Birnbaum hinauf, um wieder im Freien Luft zu schöpfen. Da droben schallte mir die Tanzmusik erst recht über die Wipfel entgegen. Ich übersah den ganzen Garten und gerade in die hellerleuchteten Fenster des Schlosses hinein. Dort drehten sich die Kronleuchter langsam wie Kränze von Sternen, unzählige geputzte Herren und Damen, wie in einem Schattenspiele, wogten und walzten und wirrten da bunt und unkenntlich durcheinander, manchmal legten sich welche ins Fenster und sahen hinunter in den Garten. Draußen vor dem Schlosse aber waren der Rasen, die Sträucher und die Bäume von den vielen Lichtern aus dem Saale wie vergoldet, so daß ordentlich die Blumen und die Vögel aufzuwachen schienen. Weiterhin um mich herum und hinter mir lag der Garten so schwarz und still. Da tanzt sie nun, dacht ich in dem Baume droben bei mir selber, und hat gewiß lange dich und deine Blumen wieder vergessen. Alles ist so fröhlich, um dich kümmert sich kein Mensch. – Und so geht es mir überall und immer. Jeder hat sein Plätzchen auf der Erde ausgesteckt, hat seinen warmen Ofen, seine Tasse Kaffee, seine Frau, sein Glas Wein zu Abend, und ist so recht zufrieden; selbst dem Portier ist ganz wohl in seiner langen Haut. – Mir ist's nirgends recht. Es ist, als wäre ich überall eben zu spät gekommen, als hätte die ganze Welt gar nicht auf mich gerechnet. […] Ich […] richtete nunmehr meine Augen unverwandt auf das Schloß hin; denn ein Kreis hoher Windlichter unten an den Stufen des Einganges warf dort einen seltsamen Schein über die blitzenden Fenster und weit in den Garten hinein. Es war die Dienerschaft, die soeben ihrer jungen Herrschaft ein Ständchen brachte. Mitten unter ihnen stand der prächtig aufgeputzte Portier, wie ein Staatsminister, vor einem Notenpulte, und arbeitete sich emsig an einem Fagott ab.Wie ich mich soeben zurechtsetzte, um der schönen Serenade zuzuhören, gingen auf einmal oben auf dem Balkon des Schlosses die Flügeltüren auf. Ein hoher Herr, schön und stattlich in Uniform und mit vielen funkelnden Sternen, trat auf den Balkon heraus, und an seiner Hand – die schöne junge gnädige Frau, in ganz weißem Kleide, wie eine Lilie in der Nacht, oder wie wenn der Mond über das klare Firmament zöge. Ich konnte keinen Blick von dem Platze verwenden, und Garten, Bäume und Felder gingen unter vor meinen Sinnen, wie sie so wundersam beleuchtet von den Fackeln hoch und schlank dastand, und bald anmutig mit dem schönen Offizier sprach, bald wieder freundlich zu den Musikanten herunternickte. Die Leute unten waren außer sich vor Freude, und ich hielt mich am Ende auch nicht mehr und schrie immer aus Leibeskräften Vivat mit. – Als sie aber bald darauf wieder von dem Balkon verschwand, unten eine Fackel nach der andern verlöschte, und die Notenpulte weggeräumt wurden, und nun der Garten ringsumher auch wieder finster wurde und rauschte wie vorher – da merkt ich erst alles – da fiel es mir auf einmal aufs Herz, daß mich wohl eigentlich nur die Tante mit den Blumen bestellt hatte, daß die Schöne gar nicht an mich dachte und lange verheiratet ist, und daß ich selber ein großer Narr war. Alles das versenkte mich recht in einen Abgrund von Nachsinnen. Ich wickelte mich, gleich einem Igel, in die Stacheln meiner eignen Gedanken zusammen: vom Schlosse schallte die Tanzmusik nur noch seltner herüber, die Wolken wanderten einsam über den dunkeln Garten weg. Und so saß ich auf dem Baume droben, wie die Nachteule, in den Ruinen meines Glücks die ganze Nacht hindurch. Die kühle Morgenluft weckte mich endlich aus meinen Träumereien. Ich erstaunte ordentlich, wie ich so auf einmal um mich her blickte. Musik und Tanz war lange vorbei, im Schlosse und rings um das Schloß herum auf dem Rasenplatze und den steinernen Stufen und Säulen sah alles so still, kühl und feierlich aus; nur der Springbrunnen vor dem Eingange plätscherte einsam in einem fort. Hin und her in den Zweigen neben mir erwachten schon die Vögel, schüttelten ihre bunten Federn und sahen, die kleinen Flügel dehnend, neugierig und verwundert ihren seltsamen Schlafkameraden an. Fröhlich schweifende Morgenstrahlen funkelten über den Garten weg auf meine Brust. Da richtete ich mich in meinem Baume auf, und sah seit langer Zeit zum ersten Male wieder einmal so recht weit in das Land hinaus, wie da schon einzelne Schiffe auf der Donau zwischen den Weinbergen herabfuhren, und die noch leeren Landstraßen wie Brücken über das schimmernde Land sich fern über die Berge und Täler hinausschwangen. Ich weiß nicht, wie es kam – aber mich packte da auf einmal wieder meine ehemalige Reiselust: alle die alte Wehmut und Freude und große Erwartung. Mir fiel dabei zugleich ein, wie nun die schöne Frau droben auf dem Schlosse zwischen Blumen und unter seidnen Decken schlummerte, und ein Engel bei ihr auf dem Bette säße in der Morgenstille. – »Nein«, rief ich aus, »fort muß ich von hier, und immer fort, so weit als der Himmel blau ist!« Und hiermit nahm ich mein Körbchen, und warf es hoch in die Luft, so daß es recht lieblich anzusehen war, wie die Blumen zwischen den Zweigen und auf dem grünen Rasen unten bunt umherlagen. Dann stieg ich selber schnell herunter und ging durch den stillen Garten auf meine Wohnung zu. Gar oft blieb ich da noch stehen auf manchem Plätzchen, wo ich sie sonst wohl einmal gesehen, oder im Schatten liegend an sie gedacht hatte. In und um mein Häuschen sah alles noch so aus, wie ich es gestern verlassen hatte. Das Gärtchen war geplündert und wüst, im Zimmer drin lag noch das große Rechnungsbuch aufgeschlagen, meine Geige, die ich schon fast ganz vergessen hatte, hing verstaubt an der Wand. Ein Morgenstrahl aber aus dem gegenüberstehenden Fenster fuhr gerade blitzend über die Saiten. Das gab einen rechten Klang in meinem Herzen. »Ja«, sagt ich, »komm nur her, du getreues Instrument! Unser Reich ist nicht von dieser Welt!« Und so nahm ich die Geige von der Wand, ließ Rechnungsbuch, Schlafrock, Pantoffeln, Pfeifen und Parasol liegen und wanderte, arm wie ich gekommen war, aus meinem Häuschen und auf der glänzenden Landstraße von dannen. Ich blickte noch oft zurück; mir war gar seltsam zumute, so traurig und doch auch wieder so überaus fröhlich, wie ein Vogel, der aus seinem Käfig ausreißt. Und als ich schon eine weite Strecke gegangen war, nahm ich draußen im Freien meine Geige vor und sang: »Den lieben Gott laß ich nur walten; Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd und Himmel tut erhalten, Hat auch mein' Sach' aufs best bestellt!« Das Schloß, der Garten und die Türme von Wien waren schon hinter mir im Morgenduft versunken, über mir jubilierten unzählige Lerchen hoch in der Luft; so zog ich zwischen den grünen Bergen und an lustigen Städten und Dörfern vorbei gen Italien hinunter. Quelle: Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 2, München 1970 ff., S. 573-584. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004740238 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Eichendorffs Novelle erzählt die Geschichte eines jungen, Taugenichts genannten Müllerssohns, der in die Welt geht, um dort sein Glück zu machen. Die Novelle ist ein exemplarischer romantischer Text. Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zur Romantik und zur romantischen Literatur und stellen Sie mit Hilfe dieser Informationen die typischen romantischen Elemente fest, von denen Eichendorff in seiner Novelle Gebrauch macht. 2. Die Titelfigur in Eichendorffs Novelle tritt auf wie ein typischer romantischer Künstler. Was sind seine charakteristischen Merkmale? 3. Einige Alltagssachen haben in der Novelle einen stark symbolhaften Charakter: Rechnungsbuch, Schlafrock, Pantoffeln, Pfeifen, Parasol, Geige. Was symbolisieren diese Sachen? Lektion 7: Analyse der Epik Heinrich Heine: Die Harzreise (Auszug) Eine halbe Stunde vor der Stadt gelangt man zu zwei großen schwärzlichen Gebäuden. Dort wird man gleich von den Bergleuten in Empfang genommen. Diese tragen dunkle, gewöhnlich stahlblaue, weite, bis über den Bauch herabhängende Jacken, Hosen von ähnlicher Farbe, ein hinten aufgebundenes Schurzfell und kleine grüne Filzhüte, ganz randlos, wie ein abgekappter Kegel. In eine solche Tracht, bloß ohne Hinterleder, wird der Besuchende ebenfalls eingekleidet, und ein Bergmann, ein Steiger, nachdem er sein Grubenlicht angezündet, führt ihn nach einer dunkeln Öffnung, die wie ein Kaminfegeloch aussieht, steigt bis an die Brust hinab, gibt Regeln, wie man sich an den Leitern festzuhalten habe, und bittet, angstlos zu folgen. Die Sache selbst ist nichts weniger als gefährlich; aber man glaubt es nicht im Anfang, wenn man gar nichts vom Bergwerkswesen versteht. Es gibt schon eine eigene Empfindung, daß man sich ausziehen und die dunkle Delinquententracht anziehen muß. Und nun soll man auf allen vieren hinabklettern, und das dunkle Loch ist so dunkel, und Gott weiß, wie lang die Leiter sein mag. Aber bald merkt man doch, daß es nicht eine einzige, in die schwarze Ewigkeit hinablaufende Leiter ist, sondern daß es mehrere von funfzehn bis zwanzig Sprossen sind, deren jede auf ein kleines Brett führt, worauf man stehen kann und worin wieder ein neues Loch nach einer neuen Leiter hinableitet. Ich war zuerst in die »Karolina« gestiegen. Das ist die schmutzigste und unerfreulichste Karolina, die ich je kennengelernt habe. Die Leitersprossen sind kotig naß. Und von einer Leiter zur andern geht's hinab, und der Steiger voran, und dieser beteuert immer, es sei gar nicht gefährlich, nur müsse man sich mit den Händen fest an den Sprossen halten und nicht nach den Füßen sehen und nicht schwindlicht werden und nur beileibe nicht auf das Seitenbrett treten, wo jetzt das schnurrende Tonnenseil heraufgeht und wo, vor vierzehn Tagen, ein unvorsichtiger Mensch hinuntergestürzt und leider den Hals gebrochen. Da unten ist ein verworrenes Rauschen und Summen, man stößt beständig an Balken und Seile, die in Bewegung sind, um die Tonnen mit geklopften Erzen oder das hervorgesinterte Wasser heraufzuwinden. Zuweilen gelangt man auch in durchgehauene Gänge, Stollen genannt, wo man das Erz wachsen sieht und wo der einsame Bergmann den ganzen Tag sitzt und mühsam mit dem Hammer die Erzstücke aus der Wand herausklopft. Bis in die unterste Tiefe, wo man, wie einige behaupten, schon hören kann, wie die Leute in Amerika »Hurra Lafayette!« schreien, bin ich nicht gekommen; unter uns gesagt, dort, bis wohin ich kam, schien es mir bereits tief genug: – immerwährendes Brausen und Sausen, unheimliche Maschinenbewegung, unterirdisches Quellengeriesel, von allen Seiten herabtriefendes Wasser, qualmig aufsteigende Erddünste und das Grubenlicht immer bleicher hineinflimmernd in die einsame Nacht. Wirklich, es war betäubend, das Atmen wurde mir schwer, und mit Mühe hielt ich mich an den glitschrigen Leitersprossen. Ich habe keinen Anflug von sogenannter Angst empfunden, aber, seltsam genug, dort unten in der Tiefe erinnerte ich mich, daß ich im vorigen Jahre, ungefähr um dieselbe Zeit, einen Sturm auf der Nordsee erlebte, und ich meinte jetzt, es sei doch eigentlich recht traulich angenehm, wenn das Schiff hin und her schaukelt, die Winde ihre Trompeterstückchen losblasen, zwischendrein der lustige Matrosenlärmen erschallt und alles frisch überschauert wird von Gottes lieber, freier Luft. Ja, Luft! – Nach Luft schnappend, stieg ich einige Dutzend Leitern wieder in die Höhe, und mein Steiger führte mich durch einen schmalen, sehr langen, in den Berg gehauenen Gang nach der Grube »Dorothea«. Hier ist es luftiger und frischer, und die Leitern sind reiner, aber auch länger und steiler als in der »Karolina«. Hier wurde mir auch besser zumute, besonders da ich wieder Spuren lebendiger Menschen gewahrte. In der Tiefe zeigten sich nämlich wandelnde Schimmer; Bergleute mit ihren Grubenlichtern kamen allmählich in die Höhe, mit dem Gruße »Glückauf!«, und mit demselben Widergruße von unserer Seite stiegen sie an uns vorüber; und wie eine befreundet ruhige und doch zugleich quälend rätselhafte Erinnerung trafen mich, mit ihren tiefsinnig klaren Blicken, die ernstfrommen, etwas blassen und vom Grubenlicht geheimnisvoll beleuchteten Gesichter dieser jungen und alten Männer, die in ihren dunkeln, einsamen Bergschachten den ganzen Tag gearbeitet hatten und sich jetzt hinaufsehnten nach dem lieben Tageslicht und nach den Augen von Weib und Kind. Mein Cicerone selbst war eine kreuzehrliche, pudeldeutsche Natur. Mit innerer Freudigkeit zeigte er mir jene Stolle, wo der Herzog von Cambridge, als er die Grube befahren, mit seinem ganzen Gefolge gespeist hat und wo noch der lange hölzerne Speisetisch steht sowie auch der große Stuhl von Erz, worauf der Herzog gesessen. Dieser bleibe zum ewigen Andenken stehen, sagte der gute Bergmann, und mit Feuer erzählte er, wie viele Festlichkeiten damals stattgefunden, wie der ganze Stollen mit Lichtern, Blumen und Laubwerk verziert gewesen, wie ein Bergknappe die Zither gespielt und gesungen, wie der vergnügte, liebe, dicke Herzog sehr viele Gesundheiten ausgetrunken habe und wie viele Bergleute, und er selbst ganz besonders, sich gern würden totschlagen lassen für den lieben, dicken Herzog und das ganze Haus Hannover. – Innig rührt es mich jedesmal, wenn ich sehe, wie sich dieses Gefühl der Untertanstreue in seinen einfachen Naturlauten ausspricht. Es ist ein so schönes Gefühl! Und es ist ein so wahrhaft deutsches Gefühl! Andere Völker mögen gewandter sein und witziger und ergötzlicher, aber keines ist so treu wie das treue deutsche Volk. Wüßte ich nicht, daß die Treue so alt ist wie die Welt, so würde ich glauben, ein deutsches Herz habe sie erfunden. Deutsche Treue! sie ist keine moderne Adressenfloskel. An euren Höfen, ihr deutschen Fürsten, sollte man singen und wieder singen das Lied von dem getreuen Eckart und dem bösen Burgund, der ihm die lieben Kinder töten lassen und ihn alsdann doch noch immer treu befunden hat. Ihr habt das treueste Volk, und ihr irrt, wenn ihr glaubt, der alte, verständige, treue Hund sei plötzlich toll geworden und schnappe nach euern geheiligten Waden. Wie die deutsche Treue, hatte uns jetzt das kleine Grubenlicht, ohne viel Geflacker, still und sicher geleitet durch das Labyrinth der Schachten und Stollen; wir stiegen hervor aus der dumpfigen Bergnacht, das Sonnenlicht strahlt' – Glückauf! Quelle: Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 3, Berlin und Weimar 2 1972. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000502854X Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Literatur · Deutsche Literatur · Reisebeschreibung Fragen und Aufgaben zum Text: 1. ‚Die Harzreise‘ gehört zu den ‚Reisebildern‘ (Reiseberichten) und schildert die Reise des Studenten Heine von Göttingen nach Ilsenburg im Harz. Heine beschreibt jedoch nicht nur die Natur, sondern er schweift immer wieder in gesellschaftliche und politische Betrachtungen ab. Was war der Grund für diese ungewöhnliche Verbindung von Naturimpressionen und Politik? Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zur Entstehungszeit des analysierten Werks. 2. Schreiben Sie unter Einbeziehung der recherchierten Informationen eine Interpretation des Textes. Was ist sein Thema? Wie werden die Bergleute beschrieben, denen Heine begegnet? Wie wird der Herzog von Cambridge beschrieben? Welche Rolle spielt das Wort „deutsch“? Lektion 8: Analyse der Epik Elisabeth Langgässer: Saisonbeginn Die Arbeiter kamen mit ihrem Schild und einem hölzernen Pfosten, auf den es genagelt werden sollte, zu dem Eingang der Ortschaft, die hoch in den Bergen an der letzten Passkehre lag. Es war ein heißer Spätfrühlingstag, die Schneegrenze hatte sich schon hinauf zu den Gletscherwänden gezogen. Überall standen die Wiesen wieder in Saft und Kraft; die Wucherblume verschwendete sich, der Löwenzahn strotzte und blähte sein Haupt über den milchigen Stengeln; Trollblumen, welche wie eingefettet mit gelber Sahne waren, platzten vor Glück, und in strahlenden Tümpeln kleinblütiger Enziane spiegelte sich ein Himmel von unwahrscheinlichem Blau. Auch die Häuser und Gasthöfe waren wie neu: ihre Fensterläden frisch angestrichen, die Schindeldächer gut ausgebessert, die Scherenzäune ergänzt. Ein Atemzug noch: dann würden die Fremden, die Sommergäste kommen – die Lehrerinnen, die mutigen Sachsen, die Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor allem die Autobesitzer in ihren großen Wagen… Röhr und Mercedes, Fiat und Opel, blitzend von Chrom und Glas. Das Geld würde anrollen. Alles war darauf vorbereitet. Ein Schild kam zum andern, die Haarnadelkurve zu dem Totenkopf, Kilometerschilder und Schilder für Fußgänger: Zwei Minuten zum Café Alpenrose. An der Stelle, wo die Männer den Pfosten in die Erde einrammen wollten, stand ein Holzkreuz, über dem Kopf des Christus war auch ein Schild angebracht. Seine Inschrift war bis heute die gleiche, wie sie Pilatus entworfen hatte: I.N.R.I. – die Enttäuschung darüber, dass es im Grunde hätte heißen sollen: er behauptet nur, dieser König zu sein, hatte im Lauf der Jahrhunderte an Heftigkeit eingebüßt. Die beiden Männer, welche den Pfosten, das Schild und die große Schaufel, um den Pfosten in die Erde zu graben, auf ihren Schultern trugen, setzten alles unter dem Wegkreuz ab; der dritte stellte den Werkzeugkasten, Hammer, Zange und Nägel daneben und spuckte ermunternd aus. Nun beratschlagten die drei Männer, an welcher Stelle die Inschrift des Schildes am besten zur Geltung käme; sie sollte für alle, welche das Dorf auf dem breiten Passweg betraten, besser: befuhren, als Blickfang dienen und nicht zu verfehlen sein. Man kam also überein, das Schild kurz vor dem Wegekreuz anzubringen, gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte. Leider stellte sich aber heraus, dass der Pfosten dann in den Pflasterbelag einer Tankstelle hätte gesetzt werden müssen – eine Sache, die sich von selbst verbot, da die Wagen, besonders die größeren, dann am Wenden behindert waren. Die Männer schleppten also den Pfosten noch ein Stück weiter hinaus bis zu der Gemeindewiese und wollten schon mit der Arbeit beginnen, als ihnen auffiel, dass diese Stelle bereits zu weit von dem Ortsschild entfernt war, das den Namen angab und die Gemeinde, zu welcher der Flecken gehörte. Wenn also das Dorf den Vorzug dieses Schildes und seiner Inschrift für sich beanspruchen wollte, musste das Schild wieder näher rücken – am besten gerade dem Kreuz gegenüber, so dass Wagen und Fußgänger zwischen beiden hätten passieren müssen. Dieser Vorschlag, von dem Mann mit den Nägeln und dem Hammer gemacht, fand Beifall. Die beiden anderen luden von neuem den Pfosten auf ihre Schultern und schleppten ihn vor das Kreuz. Nun sollte also das Schild mit der Inschrift zu dem Wegkreuz senkrecht stehen; doch es zeigte sich, dass die uralte Buche, welche gerade hier Äste mit riesiger Spanne nach beiden Seiten wie eine Mantelmadonna ihren Umhang entfaltete, die Inschrift im Sommer verdeckt und ihr Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens abgeschwächt hätte. Es blieb daher nur noch die andere Seite neben dem Herrenkreuz, und da die erste, die in das Pflaster der Tankstelle überging, gewissermaßen den Platz des Schächers zur Linken bezeichnet hätte, wurde jetzt der Platz zur Rechten gewählt und endgültig beibehalten. Zwei Männer hoben die Erde aus, der dritte nagelte rasch das Schild mit wuchtigen Schlägen auf; dann stellten sie den Pfosten gemeinsam in die Grube und rammten ihn rings von allen Seiten mit größeren Feldsteinen an. Ihre Tätigkeit blieb nicht unbeachtet. Schulkinder machten sich gegenseitig die Ehre streitig, dabei zu helfen, den Hammer, die Nägel hinzureichen und passende Steine zu suchen; auch einige Frauen blieben stehen, um die Inschrift genau zu studieren. Zwei Nonnen, welche die Blumenvase zu Füßen des Kreuzes aufs neue füllten, blickten einander unsicher an, bevor sie weitergingen. Bei den Männern, die von der Holzarbeit oder vom Acker kamen, war die Wirkung verschieden: einige lachten, andere schüttelten nur den Kopf, ohne etwas zu sagen; die Mehrzahl blieb davon unberührt und gab weder Beifall, noch Ablehnung kund, sondern war gleichgültig, wie sich die Sache auch immer entwickeln würde. Im ganzen genommen konnten die Männer mit der Wirkung zufrieden sein. Der Pfosten, kerzengerade, trug das Schild mit der weithin sichtbaren Inschrift, die Nachmittagssonne glitt wie ein Finger über die zollgroßen Buchstaben hin und fuhr jeden einzelnen langsam nach wie den Richtspruch auf einer Tafel… Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen: man merkte, sie ging ihn gleichfalls an, welcher bisher von den Leuten als einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden, würde sie ihm nun für lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen. Als die Männer den Kreuzigungsort verließen und ihr Handwerkszeug wieder zusammenpackten, blickten alle drei noch einmal befriedigt zu dem Schild mit der Inschrift auf. Sie lautete: „In diesem Kurort sind Juden unerwünscht.“ Quelle: Rötzer, Hans Gerd: Literarische Texte verstehen und interpretieren. Eine Einführung für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 5 mit 10, Bd. 3, München, 6. Auflage, 1997, S. 60-64. Fragen zum Text: 1. Zu welchem Genre gehört die vorstehende Geschichte? Woran kann man es erkennen? Wie ist die Geschichte formal gestaltet; wie ist sie aufgebaut? 2. Was ist das Thema der Geschichte; wie ist der Titel zu interpretieren? 3. Was liegt im Mittelpunkt? 4. Mit welchen Vergleichs- und Kontrastbildern arbeitet die Autorin? 5. Was ist die Pointe des Erzählten; wie sind insbesondere die zwei letzten Absätze zu deuten? Lektion 9: Einführung in die Analyse des Dramas Grundbegriffe Merkmale des Dramas: • Charakteristische Merkmale des Dramas sind die Unmittelbarkeit der Darstellung und die Plurimedialität. – Im sog. Epischen Theater werden gezielt epische Elemente eingesetzt. • Gegenstand literaturwissenschaftlicher Erforschung sind sowohl die dramatischen Texte allein als auch ihre Aufführungsgeschichte. – Ein dramatischer Text wird in den Haupttext und den Nebentext gegliedert. Figuren im Drama: • Figuren können durch den Autor vorgestellt werden: – Sprechende Namen. • Figuren können sich selbst vorstellen oder sie können durch die Inszenierung vorgestellt werden: – Direkte Möglichkeiten der Charakterisierung (Eigenkommentar). – Indirekte Möglichkeiten der Charakterisierung (individuelle Sprechweise, Kostüme, Requisiten). – Relation einer Figur zu anderen Figuren. Kommunikationsmöglichkeiten im Drama: • Monolog, • Beiseite, • Dialog. Sprache im Drama: • Vers: – Knittelvers: ein mit dem Paarreim verbundener Vers mit einer variierenden Silbenzahl (15. bis frühes 17. Jh.). – Alexandriner: ein gereimter sechshebiger jambischer Vers mit einer Zäsur nach der sechsten Silbe (17. bis 18. Jh.). – Blankvers: ein reimloser fünfhebiger jambischer Vers (spätes 18. bis 19. Jh.). • Prosa: – Durchsetzung im Realismus und Naturalismus, eindeutig vorherrschend seit dem 20. Jh. Relevante Strukturen für die Analyse des Handlungsverlaufs: • Zeitstruktur, verbunden mit der Problematik der Kongruenz von gespielter Zeit und Spielzeit („Einheit der Zeit“). • Raumstruktur, verbunden mit der Problematik der „Einheit des Ortes“. • Kompositionsstruktur, verbunden mit der Gliederung in Akte und Szenen (seit Horaz und Seneca war das Fünfaktschema üblich, heute sind die meisten Stücke Einakter). * Dramatische Gattungsformen Tragödie (Trauerspiel): • Entstehung im antiken Griechenland (8. Jh. v. Chr.), Definierung durch Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) und Horaz (1. Jh. v. Chr. bis 1. Jh. n. Chr.). • In der Renaissance und im Barock neuer Aufschwung, Aktualisierung von Aristoteles und Horaz, Durchsetzung der Ständeklausel, der drei Einheiten und des Alexandriners. • Im 18. Jh. Begründung des bürgerlichen Trauerspiels (Lessing), Außerkraftsetzung der Restriktionen, Neuinterpretation von Aristoteles (Katharsis). • Im 19. Jh. Entstehung neuer Spielformen (Schicksalsdrama und Geschichtstragödie). • Im 20. Jh. Ende der „klassischen“ Tragödie. Komödie (Lustspiel): • Entstehung im antiken Griechenland (Aristophanes, die Wende vom 5. zum 4. Jh. v. Chr.), Weiterentwicklung durch die römischen Autoren wie Plautus und Terenz. • Im Mittelalter Verdrängung der antiken Komödie durch volkstümliche Dramenarten (Fastnachtspiel oder Farce). • In der Renaissance Wiederbelebung der antiken Komödie, in der Aufklärung Entwicklung neuer Formen (Sächsische Typenkomödie, Lessings realistische Komödie). • Im 19. Jh. Kultivierung neu entwickelter Sonderformen (Konversations- oder Kriminalkomödie), aber auch Vermischung der Komödie mit „ernsteren“ Dramengattungen (Tragikomödie, Groteske und engagierte politische Komödie). Volksstück: • Ein volkstümlicher Seitenzweig der Komödie, beliebt vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jh. in Wien (Ferdinand Raimund, Johann Nepomuk Nestroy), gepflegt aber noch heute (Ohnesorg-Theater in Hamburg, Millowitsch-Theater in Köln). • Charakteristische Merkmale: – begrenztes Themenspektrum, – übersichtliche Konfiguration, – simple Zeit- und Raumstruktur, – alltäglich-verständliche Sprache, – obligatorisches Happyend. • Im 20. Jh. Entstehung des sog. Neuen Volksstücks (Marieluise Fleißer, Franz Xaver Kroetz), das oft einen tragischen Ausgang hat. Libretto: • Das Textbuch einer Oper, einer Operette, eines Musicals usw., entstanden mit der Oper im späten 16. Jh. • Komponisten, die ihre Librettos selbst verfassten: Gustav A. Lortzing, Richard Wagner, Paul Hindemith, Arnold Schönberg. • Komponisten, die mit prominenten Dichtern zusammenarbeiteten: Richard Strauss, Kurt Weill, Hans W. Henze (Hugo von Hofmannsthal, Bertolt Brecht und Ingeborg Bachmann). Hörspiel: • Eine Mischform: – Einsatz der szenischen Präsentation durch Schauspieler (Sprecher), – Verzicht auf Plurimedialität. • Ausgleich des Fehlens optischer Signale: – Konzentration auf die Innenweltdarstellung, plastische und suggestive Schauplatzschilderung (Günter Eich, Ingeborg Bachmann), – Konzentration auf die rein akustische Seite (Wolf Wondratschek, Ferdinand Kriwet). • Existenz in mehreren Formen: – abstrakte Collagen aus Sprache, Geräuschen und Musik, – traditionelle Formen (Kriminalhörspiel). Quelle: Der vorstehende Text ist ein Auszug aus: • Schneider, Jost: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 5. Auflage. Bielefeld 2008, S. 177-192. Lektion 10: Analyse des Dramas Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (Auszug) 4. Akt, 2. Auftritt Der Patriarch, welcher mit allem geistlichen Pomp den einen Kreuzgang heraufkömmt, und die Vorigen. TEMPELHERR. Ich wich ihm lieber aus. – Wär' nicht mein Mann! – Ein dicker, roter, freundlicher Prälat! Und welcher Prunk! KLOSTERBRUDER. Ihr solltet ihn erst sehn, Nach Hofe sich erheben. Itzo kömmt Er nur von einem Kranken. TEMPELHERR. Wie sich da Nicht Saladin wird schämen müssen! PATRIARCH indem er näher kömmt, winkt dem Bruder. Hier! – Das ist ja wohl der Tempelherr. Was will Er? KLOSTERBRUDER. Weiß nicht. PATRIARCH auf ihn zugehend, indem der Bruder und das Gefolge zurücktreten. Nun, Herr Ritter! – Sehr erfreut Den braven jungen Mann zu sehn! – Ei, noch So gar jung! – Nun, mit Gottes Hülfe, daraus Kann etwas werden. TEMPELHERR. Mehr, ehrwürd'ger Herr, Wohl schwerlich, als schon ist. Und eher noch, Was weniger. PATRIARCH. Ich wünsche wenigstens, Daß so ein frommer Ritter lange noch Der lieben Christenheit, der Sache Gottes Zu Ehr und Frommen blühn und grünen möge! Das wird denn auch nicht fehlen, wenn nur fein Die junge Tapferkeit dem reifen Rate Des Alters folgen will! – Womit wär' sonst Dem Herrn zu dienen? TEMPELHERR. Mit dem nämlichen, Woran es meiner Jugend fehlt: mit Rat. PATRIARCH. Recht gern! – Nur ist der Rat auch anzunehmen. TEMPELHERR. Doch blindlings nicht? PATRIARCH. Wer sagt denn das? – Ei freilich Muß niemand die Vernunft, die Gott ihm gab, Zu brauchen unterlassen, – wo sie hin Gehört. – Gehört sie aber überall Denn hin? – O nein! – Zum Beispiel: wenn uns Gott Durch einen seiner Engel, – ist zu sagen, Durch einen Diener seines Worts, – ein Mittel Bekannt zu machen würdiget, das Wohl Der ganzen Christenheit, das Heil der Kirche, Auf irgend eine ganz besondre Weise Zu fördern, zu befestigen: wer darf Sich da noch unterstehn, die Willkür des, Der die Vernunft erschaffen, nach Vernunft Zu untersuchen? und das ewige Gesetz der Herrlichkeit des Himmels, nach Den kleinen Regeln einer eiteln Ehre Zu prüfen? – Doch hiervon genug. – Was ist Es denn, worüber unsern Rat für itzt Der Herr verlangt? TEMPELHERR. Gesetzt, ehrwürd'ger Vater, Ein Jude hätt' ein einzig Kind, – es sei Ein Mädchen, – das er mit der größten Sorgfalt Zu allem Guten auferzogen, das Er liebe mehr als seine Seele, das Ihn wieder mit der frömmsten Liebe liebe. Und nun würd' unser einem hinterbracht, Dies Mädchen sei des Juden Tochter nicht; Er hab' es in der Kindheit aufgelesen, Gekauft, gestohlen, – was Ihr wollt; man wisse, Das Mädchen sei ein Christenkind, und sei Getauft; der Jude hab' es nur als Jüdin Erzogen; laß es nur als Jüdin und Als seine Tochter so verharren: – sagt, Ehrwürd'ger Vater, was wär' hierbei wohl Zu tun? PATRIARCH. Mich schaudert! – Doch zu allererst Erkläre sich der Herr, ob so ein Fall Ein Faktum oder eine Hypothes'. Das ist zu sagen: ob der Herr sich das Nur bloß so dichtet, oder obs geschehn, Und fortfährt zu geschehn. TEMPELHERR. Ich glaubte, das Sei eins, um Euer Hochehrwürden Meinung Bloß zu vernehmen. PATRIARCH. Eins? – Da seh der Herr Wie sich die stolze menschliche Vernunft Im Geistlichen doch irren kann. – Mit nichten! Denn ist der vorgetragne Fall nur so Ein Spiel des Witzes: so verlohnt es sich Der Mühe nicht, im Ernst ihn durchzudenken. Ich will den Herrn damit auf das Theater Verwiesen haben, wo dergleichen pro Et contra sich mit vielem Beifall könnte Behandeln lassen. – Hat der Herr mich aber Nicht bloß mit einer theatral'schen Schnurre Zum besten; ist der Fall ein Faktum; hätt' Er sich wohl gar in unsrer Diözes', In unsrer lieben Stadt Jerusalem, Eräugnet: – ja alsdann – TEMPELHERR. Und was alsdann? PATRIARCH. Dann wäre mit dem Juden fördersamst Die Strafe zu vollziehn, die päpstliches Und kaiserliches Recht so einem Frevel, So einer Lastertat bestimmen. TEMPELHERR. So? PATRIARCH. Und zwar bestimmen obbesagte Rechte Dem Juden, welcher einen Christen zur Apostasie verführt, – den Scheiterhaufen, – Den Holzstoß – TEMPELHERR. So? PATRIARCH. Und wie vielmehr dem Juden, Der mit Gewalt ein armes Christenkind Dem Bunde seiner Tauf entreißt! Denn ist Nicht alles, was man Kindern tut, Gewalt? – Zu sagen: – ausgenommen, was die Kirch' An Kindern tut. TEMPELHERR. Wenn aber nun das Kind, Erbarmte seiner sich der Jude nicht, Vielleicht im Elend umgekommen wäre? PATRIARCH. Tut nichts! der Jude wird verbrannt. – Denn besser, Es wäre hier im Elend umgekommen, Als daß zu seinem ewigen Verderben Es so gerettet ward. – Zu dem, was hat Der Jude Gott denn vorzugreifen? Gott Kann, wen er retten will, schon ohn' ihn retten. TEMPELHERR. Auch Trotz ihm, sollt' ich meinen, – selig machen. PATRIARCH. Tut nichts! der Jude wird verbrannt. TEMPELHERR. Das geht Mir nah'! Besonders, da man sagt, er habe Das Mädchen nicht sowohl in seinem, als Vielmehr in keinem Glauben auferzogen, Und sie von Gott nicht mehr nicht weniger Gelehrt, als der Vernunft genügt. PATRIARCH. Tut nichts! Der Jude wird verbrannt ... Ja, wär' allein Schon dieserwegen wert, dreimal verbrannt Zu werden! – Was? ein Kind ohn' allen Glauben Erwachsen lassen? – Wie? die große Pflicht Zu glauben, ganz und gar ein Kind nicht lehren? Das ist zu arg! – Mich wundert sehr, Herr Ritter, Euch selbst ... TEMPELHERR. Ehrwürd'ger Herr, das übrige, Wenn Gott will, in der Beichte. Will gehn. PATRIARCH. Was? mir nun Nicht einmal Rede stehn? – Den Bösewicht, Den Juden mir nicht nennen? – mir ihn nicht Zur Stelle schaffen? – O da weiß ich Rat! Ich geh sogleich zum Sultan. – Saladin, Vermöge der Kapitulation, Die er beschworen, muß uns, muß uns schützen; Bei allen Rechten, allen Lehren schützen, Die wir zu unsrer allerheiligsten Religion nur immer rechnen dürfen! Gottlob! wir haben das Original. Wir haben seine Hand, sein Siegel. Wir! – Auch mach' ich ihm gar leicht begreiflich, wie Gefährlich selber für den Staat es ist, Nichts glauben! Alle bürgerliche Bande Sind aufgelöset, sind zerrissen, wenn Der Mensch nichts glauben darf. – Hinweg! hinweg Mit solchem Frevel! .. TEMPELHERR. Schade, daß ich nicht Den trefflichen Sermon mit beßrer Muße Genießen kann! Ich bin zum Saladin Gerufen. PATRIARCH. Ja? – Nun so – Nun freilich – Dann – TEMPELHERR. Ich will den Sultan vorbereiten, wenn Es Eurer Hochehrwürden so gefällt. PATRIARCH. O, oh! – Ich weiß, der Herr hat Gnade funden Vor Saladin! – Ich bitte meiner nur Im besten bei ihm eingedenk zu sein. – Mich treibt der Eifer Gottes lediglich. Was ich zu viel tu, tu ich ihm. – Das wolle Doch ja der Herr erwägen! – Und nicht wahr, Herr Ritter? das vorhin Erwähnte von Dem Juden, war nur ein Problema? – ist Zu sagen – TEMPELHERR. Ein Problema. Geht ab. PATRIARCH. (Dem ich tiefer Doch auf den Grund zu kommen suchen muß. Das wär' so wiederum ein Auftrag für Den Bruder Bonafides.) – Hier, mein Sohn! Er spricht im Abgehn mit dem Klosterbruder. Quelle: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 295-301. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005262585 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Bestimmen Sie den Haupttext und den Nebentext. Beschreiben sie die Form des Haupttextes. Handelt sich hier um ein Versdrama oder ein Stück in Prosa? 2. ‚Nathan der Weise‘ handelt von den Konflikten zwischen den Christen, Juden und Moslems in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge. Die Titelfigur – der reiche, rational denkende und vor allem tolerante Jude Nathan – ist ein Idealtypus des aufgeklärten Menschen und das literarische Porträt des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, mit dem Lessing befreundet war. Die Entstehung des Dramas ist mit einer Kontroverse verbunden, in die Lessing persönlich involviert war. Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zum Leben des Autors und erklären Sie mit Hilfe dieser Informationen, um welche Kontroverse es sich gehandelt hat und was Lessing mit seinem ‚Nathan‘ bezweckt hat. 3. Schreiben Sie unter Einbeziehung der recherchierten Informationen eine Interpretation des Textes. Was ist sein Thema? Welche Position wird von dem Patriarchen vertreten? Lektion 11: Analyse des Dramas Georg Büchner: Dantons Tod Als im September 1792 die preußisch-österreichischen Truppen in Frankreich vorrückten, ermordeten die Jakobiner unter Anführung Dantons 1500 politisch Verdächtige in den Pariser Kerkern. Zwei Jahre später unterlag Danton seinem Gegenspieler Robespierre, weil er für eine Beendigung des Terrors eintrat, und starb mit seinen Anhängern auf dem Schafott. Büchners Drama stellt einen Danton dar, der untätig seinem Tod entgegensieht. Er genießt das Leben in der Gewissheit seines Unterganges, ein Leben, das ihn zugleich anekelt, weil er keinen Sinn in ihm finden kann.3 2. Aufzug Ein Zimmer. Es ist Nacht. DANTON am Fenster. Will denn das nie aufhören? Wird das Licht nie ausglühn und der Schall nie modern? Will's denn nie still und dunkel werden, daß wir uns die garstigen Sünden einander nicht mehr anhören und ansehen? – September! – JULIE ruft von innen. Danton! Danton! DANTON. He? JULIE tritt ein. Was rufst du? DANTON. Rief ich? JULIE. Du sprachst von garstigen Sünden, und dann stöhntest du: September! DANTON. Ich, ich? Nein, ich sprach nicht; das dacht ich kaum, das waren nur ganz leise, heimliche Gedanken. JULIE. Du zitterst, Danton! DANTON. Und soll ich nicht zittern, wenn so die Wände plaudern? Wenn mein Leib so zerschellt ist, daß meine Gedanken unstet, umirrend mit den Lippen der Steine reden? Das ist seltsam. JULIE. Georg, mein Georg! DANTON. Ja, Julie, das ist sehr seltsam. Ich möchte nicht mehr denken, wenn das gleich so spricht. Es gibt Gedanken, Julie, für die es keine Ohren geben sollte. Das ist nicht gut, daß sie bei der Geburt gleich schreien wie Kinder; das ist nicht gut. JULIE. Gott erhalte dir deine Sinne! – Georg, Georg, erkennst du mich? DANTON. Ei warum nicht! Du bist ein Mensch und dann eine Frau und endlich meine Frau, und die Erde hat fünf Weltteile, Europa, Asien, Afrika, Amerika, Australien, und zwei mal zwei macht vier. Ich bin bei Sinnen, siehst du. – Schrie's nicht September? Sagtest du nicht so was? JULIE. Ja, Danton, durch alle Zimmer hört ich's. DANTON. Wie ich ans Fenster kam – Er sieht hinaus. die Stadt ist ruhig, alle Lichter aus ... JULIE. Ein Kind schreit in der Nähe. DANTON. Wie ich ans Fenster kam – durch alle Gassen schrie und zetert' es: September! JULIE. Du träumtest, Danton. Faß dich! 3 Van Rinsum, Annemarie und Wolfgang (1987): Dichtung und Deutung. Geschichte der deutschen Literatur in Beispielen. München, S. 210. DANTON. Träumtest? Ja, ich träumte; doch das war anders, ich will dir es gleich sagen – mein armer Kopf ist schwach – gleich! So, jetzt hab ich's: Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung; ich hatte sie wie ein wildes Roß gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt ich in ihren Mähnen und preßt ich ihre Rippen, das Haupt abwärts gewandt, die Haare flatternd über dem Abgrund; so ward ich geschleift. Da schrie ich in der Angst, und ich erwachte. Ich trat ans Fenster – und da hört ich's, Julie. Was das Wort nur will? Warum gerade das? Was hab ich damit zu schaffen? Was streckt es nach mir die blutigen Hände? Ich hab es nicht geschlagen. – O hilf mir, Julie, mein Sinn ist stumpf! War's nicht im September, Julie? JULIE. Die Könige waren nur noch vierzig Stunden von Paris ... DANTON. Die Festungen gefallen, die Aristokraten in der Stadt ... JULIE. Die Republik war verloren. DANTON. Ja, verloren. Wir konnten den Feind nicht im Rücken lassen, wir wären Narren gewesen: zwei Feinde auf einem Brett; wir oder sie, der Stärkere stößt den Schwächeren hinunter – ist das nicht billig? JULIE. Ja, ja. DANTON. Wir schlugen sie – das war kein Mord, das war Krieg nach innen. JULIE. Du hast das Vaterland gerettet. DANTON. Ja, das hab ich; das war Notwehr, wir mußten. Der Mann am Kreuze hat sich's bequem gemacht: es muß ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt! – Es muß; das war dies Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! die Schwerter, mit denen Geister kämpfen – man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen. – Jetzt bin ich ruhig. JULIE. Ganz ruhig, lieb Herz? DANTON. Ja, Julie; komm, zu Bette! Quellen: Georg Büchner: Werke und Briefe. Frankfurt a.M. 131979, S. 33-51. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004637127 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Bestimmen Sie den Haupttext und den Nebentext. Beschreiben sie die sprachliche Form des Haupttextes. Handelt sich hier um ein Versdrama oder ein Stück in Prosa? 2. Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zum Leben und Werk des Autors sowie zur Entstehungszeit des Dramas. Konzentrieren Sie sich vor allem auf Büchners Beziehung zur Revolution. 3. Schreiben Sie unter Einbeziehung von recherchierten Informationen eine Interpretation des Textes. Was ist sein Thema? Wie verhält sich die Titelfigur? Lektion 12: Analyse des Dramas Bertolt Brecht: Furcht und Elend des Dritten Reiches (Der Verrat) Dort kommen die Verräter, sie haben Dem Nachbarn die Grube gegraben Sie wissen, daß man sie kennt. Vielleicht: die Straße vergisst nicht? Sie schlafen schlecht: noch ist nicht Aller Tage End. Breslau, 1933. Kleinbürgerwohnung. Eine Frau und ein Mann stehen an der Tür und horchen. Sie sind sehr blaß. DIE FRAU: Jetzt sind sie drunten. DER MANN: Noch nicht. DIE FRAU: Sie haben das Geländer zerbrochen. Er war schon bewußtlos, wie sie ihn aus der Wohnung geschleppt haben. DER MANN: Ich habe doch nur gesagt, daß das Radio mit den Auslandssendungen nicht von hier kam. DIE FRAU: Du hast doch nicht nur das gesagt. DER MANN: Ich habe nichts sonst gesagt. DIE FRAU: Schau mich nicht so an. Wenn du nichts sonst gesagt hast, dann hast du eben nichts sonst gesagt. DER MANN: Das meine ich auch. DIE FRAU: Warum gehst du nicht hin auf die Wache und sagst aus, daß sie keinen Besuch hatten am Samstag. Pause. DER MANN: Ich geh nicht auf die Wache. Das sind Tiere, wie sie mit ihm umgegangen sind. DIE FRAU: Es geschieht ihm recht. Warum mischt er sich in die Politik. DER MANN: Aber sie hätten ihm nicht die Jacke zu zerreißen brauchen. So dick hat es unsereiner nicht. DIE FRAU: Auf die Jacke kommt es doch nicht an. DER MANN: Sie hätten sie ihm nicht zerreißen brauchen. Quelle: http://www.rackwitz.users4.50megs.com/arbeitsblatt4.html (3.11.2014). Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die Form des Textes. Welche Funktion hat das einleitende Lied? Gibt es im vorstehenden Text Elemente des epischen Theaters? 2. Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zum Leben und Werk des Autors sowie zur Entstehungszeit des Dramas. Konzentrieren Sie sich vor allem auf Brechts Beziehung zum NS-Regime. 3. Schreiben Sie unter Einbeziehung von recherchierten Informationen eine Interpretation des Textes. Was ist sein Thema? Was für ein Vorfall wird hier gezeigt? Warum haben die Figuren keine individuellen Namen? Wie verhalten sie sich? Okruhy ke zkoušce Zkouška proběhne formou diskuze nad vypracovanými úkoly. Termín odevzdání portfolia s vypracovanými úkoly bude stanoven během prvního semináře.