Hälfte des Rathauses herum und stieg die Freitreppe hinauf, die, mit einer kleinen Biegung nach links, unmittelbar in den Sitzungssaal führte. Es war derselbe Saal, in dem, zu Beginn unsrer Erzählung, die Puppenspieler gespielt und das verhängnisvolle Feuer- 5 werk abgebrannt hatten. Aber statt der vielen Bänke stand jetzt nur ein einziger langer Tisch inmitten desselben, und um den Tisch her, über den eine herunterhängende grüne Decke gebreitet war, saßen Burgemeister und Rat. Zuoberst Peter Guntz, und zu beiden Seiten neben ihm: Caspar Helm- 10 reich, Joachim Lemm, Christoph Thone, Jürgen Lindstedt und drei, vier andre noch. Nur Ratsherr Zemitz hatte sich mit Krankheit entschuldigen lassen. An der andern Schmalseite des Tisches aber wiegte sich Gerdt auf seinem Stuhl, dasselbe Aktenbündel in Händen, in dem er gestern gelesen 15 hatte. Er verfärbte sich jetzt und senkte den Blick, als er seine Schwester eintreten sah, und aus allem war ersichtlich, daß er eine Begegnung an dieser Stelle nicht erwartet hatte. Grete sah es und trat an den Tisch und sagte: »Grüß' Euch 20 Gott, Peter Guntz. Ihr kennt mich nicht mehr; aber ich kenn Euch. Ich bin Grete Minde, Jakob Mmdes einzige Tochter.« Alle sahen betroffen auf, erst auf Grete, dann auf Gerdt, und nur der alte Peter Guntz selbst, der so viel gesehen und 25 erlebt hatte, daß ihn nichts mehr verwundersam bedünkte, zeigte keine Betroffenheit und sagte freundlich: »Ich kenn dich wohl. Armes Kind. Was bringst du, Grete? Was führt dich her?« »Ich komm, um zu klagen wider meinen Bruder Gerdt, der 30 mir mein Erbe weigert. Und dessen, denk ich, hat er kein Recht. Ich kam in diese Stadt, um wiedergutzumachen, was ich gefehlt, und wollte dienen und arbeiten, und bitten und beten. Und das alles um dieses meines Kindes willen. Aber Gerdt Minde hat mich von seiner Schwelle gewiesen; er 35 mißtraut mir; und vielleicht, daß er's darf. Denn ich weiß es wohl, was ich war und was ich bin. Aber wenn ich kein Recht hab an sein brüderlich Herz, so hab ich doch ein Recht an mein väterlich Gut. Und dazu, Peter Guntz und Ihr andern Herren vom Rat, sollt Ihr mir willfährig und be-5 hilflich sein.« Peter Guntz, als Grete geendet, wandte sich an Gerdt und sagte: »Ihr habt die Klage gehört, Ratsherr Minde. Ist es, wie sie sagt? Oder was habt Ihr dagegen vorzubringen.« »Es ist nicht, wie sie sagt«, erhob sich Gerdt von seinem 10 Stuhl. »Ihre Mutter war einer armen Frauen Kind, Ihr wisset all, wes Landes und Glaubens, und kam ohne Mitgift m unser Haus.« »Ich weiß.« »Ihr wißt es. Und doch soll ich sprechen, wo mir zu schwei- 15 gen ziemlicher war'. Aber Euer Ansinnen lasset mir keine Wahl. Und so höret denn. Jakob Minde, mein Vater, so klug er war, so wenig umsichtig war er. Und so zeigte sich's von Jugend auf. Er hatte keine glückliche Hand in Geschäften und ging doch gern ins Große, wie die Lübischen tun 20 und die Flandrischen. Aber das trug unser Haus nicht. Und als ihm zwei Schiffe scheiterten, da war er selbst am Scheitern. Und um diese Zeit war es, daß er meine Mutter heimführte, von Stendal her, Baldewin Rickharts einzige Tochter. Und mit ihr kam ein Vermögen in unser Haus. . .« 25 »Mit dem Euer Vater wirtschaftete.« »Aber nicht zu Segen und Vorteil. Und ich habe mich mühen müssen und muß es noch, um alte Mißwirtschaft in neue Gutewirtschaft zu verkehren, und alles, was ich mein nenne bis diese Stunde, reicht nicht heran an das Eingebrachte von 30 den Stendalschen Rickharts her.« »Und dies sagt Ihr an Eides statt, Ratsherr Minde!« »Ja, Peter Guntz.« »Dann, so sich nicht Widerspruch erhebt, weis ich dich ab mit deiner Klage. Das ist Tangermündisch Recht. Aber eh' 35 ich dich, Grete Minde, die du zu Spruch und Beistand uns angerufen hast, aus diesem unserem Gericht entlasse, frag 100 101