ich dich, Gerdt Münde, ob du dein Recht brauchen und behaupten oder nicht aus christlicher Barmherzigkeit von ihm ablassen willst. Denn sie, die hier vor dir steht, ist deines Vaters Kind und deine Schwester.« »Meines Vaters Kind, Peter Guntz, aber nicht meine Schwe- 5 ster. Damit ist es nun vorbei. Sie fuhr hoch, als sie noch mit uns war; nun fährt sie niedrig, und steht vor Euch und mir, und birgt ihr Kind unterm Mantel. Fragt sie, wo sie's her hat? Am Wege hat sie's geboren. Und ich habe nichts gemein mit Weibern, die zwischen Heck' und Graben ihr Feuer zun- 10 den und ihre Lagerstatt beziehn. Unglück? Wer's glaubt. Sie hat's gewollt. Kein falsch Erbarmen, liebe Herren. Wie wir uns betten, so liegen wir.« Grete, während ihr Bruder sprach, hatte das Kind aus ihrem Mantel genommen und es fest an sich gepreßt. Jetzt hob 15 sie's in die Höh', wie zum Zeichen, daß sie's nicht verheimlichen wolle. Und nun erst schritt sie dem Ausgange zu. Hier wandte sie sich noch einmal und sagte ruhig und mit tonloser Stimme: »Verlaß dich nicht auf dein Gewalt, 20 Dein Leben ist hier bald gezahlt, Wie du zuvor hast 'richtet mich, Also wird Gott auch richten dich -« und verneigte sich und ging. Die Ratsherren, deren anfängliche Neugier und Teilnahme 25 rasch hingeschwunden war, sahen ihr nach, einige hart und spöttisch, andere gleichgültig. Nur Peter Guntz war in Sorg' und Unruh' über das Urtel, das er hatte sprechen müssen. »Ein unbillig Recht, ein totes Recht.« Und er hob die Sitzung auf und ging ohne Gruß 30 und Verneigung an Gerdt Minde vorüber. 20. Hier hastu gerichtet nur kleine Zeit, Dort wirstu gerichtet in Ewigkeit Grete war die Treppe langsam hinabgestiegen. Das Markttreiben unten dauerte noch fort, aber sie sah es nicht mehr; 5 und als sie den Platz hinter sich hatte, richtete sie sich auf, wie von einem wirr-phantastischen Hoheitsgefühl ergriffen. Sie war keine Bettlerin mehr, auch keine Bittende; nein; ihr gehörte diese Stadt, ihr. Und so schritt sie die Straße hinunter auf das Tor zu. 10 Aber angesichts des Tores bog sie nach links hin in eine Scheunengasse und gleich dahinter in einen schmalen, grasüberwachsenen Weg ein, der, zwischen der Mauer und den Gärten hin, im Zirkel um die Stadt lief. Hier durfte sie sicher sein, niemandem zu begegnen, und als sie bei der 15 Mindeschen Gartenpforte war, blieb sie stehen. Erinnerungen kamen ihr, Erinnerungen an ihn, der jetzt auf dem Klosterkirchhof schlief, und ihr schönes Menschenantlitz verklärte sich noch einmal unter flüchtiger Einkehr in alte Zeit und altes Glück. Aber dann schwand es wieder, und jener 20 starr-unheimliche Zug war wieder da, der über die Trübungen ihrer Seele keinen Zweifel ließ. Es war ihr mehr auferlegt worden, als sie tragen konnte, und das Zeichen, von dem die Domina gesprochen, heut hätt' es jeder gesehen. Und nun legte sie die Hand auf die rostige Klinke, drückte 25 die Tür auf und zu und sah, ihren Vorstellungen nachhängend, auf die hohen Dächer und Giebel, die von drei Seiten her das gesamte Hof- und Gartenviereck dieses Stadtteils umstanden. Einer dieser Giebel war der Rathausgiebel, jetzt schwarz und glasig, und hinter dem Giebel stand ein dickes 30 Gewölk. Zugleich fühlte sie, daß eine schwere, feuchte Luft zog; Windstöße fuhren dazwischen, und sie hörte, wie das Obst von den Bäumen fiel. Über die Stadt hin aber, von Sankt Stephan her, flogen die Dohlen, unruhig, als ob sie nach einem andren Platze suchten und ihn nicht finden 102 103