LITERARISCHE TEXTANALYSE 1 Studijní opora Opava 2017 Obsah Obsah.......................................................................................................................................... 2 Popis předmětu........................................................................................................................... 3 Sylabus předmětu ....................................................................................................................... 4 Požadavky na studenta ............................................................................................................... 5 Doporučená literatura................................................................................................................. 6 Způsob komunikace s vedoucím semináře................................................................................. 7 Lektion 1: Naturalismus und antinaturalistische Strömungen ................................................... 8 Lektion 2: Naturalismus und antinaturalistische Strömungen ................................................. 10 Lektion 3: Expressionismus ..................................................................................................... 11 Lektion 4: Expressionismus ..................................................................................................... 12 Lektion 5: Neue Sachlichkeit ................................................................................................... 13 Lektion 6: Neue Sachlichkeit ................................................................................................... 15 Lektion 7: Antifaschistische Literatur...................................................................................... 17 Lektion 8: Antifaschistische Literatur...................................................................................... 18 Lektion 9: Engagierte Literatur der Nachkriegszeit................................................................. 20 Lektion 10: Engagierte Literatur der Nachkriegszeit............................................................... 23 Lektion 11: Politisierte Literatur und „Neue Subjektivität“..................................................... 26 Lektion 12: Politisierte Literatur und „Neue Subjektivität“..................................................... 28 Okruhy ke zkoušce................................................................................................................... 29 Popis předmětu Cílem semináře je prohloubit schopnost studentů pracovat s literárním textem a analyzovat jej po formální a obsahové stránce. Seminář se zaměřuje především na literaturu 20. století. Předmětem analýzy jsou texty všech literárních druhů, a to jak kompletní texty, tak úryvky. Sylabus předmětu Téma lekce Termín semináře1 Kontrola úkolů2 Lekce 1 Naturalistická a antinaturalistická literatura Lekce 2 Naturalistická a antinaturalistická literatura Lekce 3 Expresionistická literatura Lekce 4 Expresionistická literatura Lekce 5 „Nová věcnost“ v literatuře Lekce 6 „Nová věcnost“ v literatuře Lekce 7 Antifašistická literatura Lekce 8 Antifašistická literatura Lekce 9 Angažovaná poválečná literatura Lekce 10 Angažovaná poválečná literatura Lekce 11 Zpolitizovaná literatura 60. let a Nová subjektivita Lekce 12 Zpolitizovaná literatura 60. let a Nová subjektivita Ukončení předmětu Ústní zkouška 1 Bude upřesněno. 2 Bude upřesněno. Požadavky na studenta Podmínkou pro absolvování předmětu je úspěšné vykonání ústní zkoušky, pravidelná docházka do seminářů a aktivní spolupráce v seminářích. Student je povinen zpracovat všechny texty, které jsou předmětem analýzy v jednotlivých lekcích, a to buď přímo v semináři, nebo doma, podle pokynů vedoucího semináře. Portfolio s vypracovanými úkoly je podkladem závěrečné zkoušky, která probíhá formou diskuze nad analyzovanými texty. Doporučená literatura Beutin, W. (Hrsg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 8. Aufl. Stuttgart/Weimar, 2013. Emmerich, W. / Heil, S. (Hrsg.): Lyrik des Exils. Stuttgart, 2012. Haller, M.: Die Reportage, 6. Aufl. Konstanz, 2008. Hoffmann, D.: Arbeitsbuch Deutschsprachige Lyrik 1880-1916. Vom Naturalismus bis zum Expressionismus. Tübingen, 2001. Hoffmann, D.: Arbeitsbuch Deutschsprachige Lyrik 1916-1945. Vom Dadaismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Tübingen, 2001. Hoffmann, D.: Arbeitsbuch Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Aufl. Tübingen, 2004. Hoffmann, D.: Arbeitsbuch Deutschsprachige Prosa seit 1945. Band 1: Von der Trümmerliteratur zur Dokumentarliteratur. Tübingen, 2006. Hoffmann, D.: Arbeitsbuch Deutschsprachige Prosa seit 1945. Band 2: Von der Neuen Subjektivität zur Pop-Literatur. Tübingen, 2006. Winkler, M.: Deutsche Literatur im Exil 1933-1945. Texte und Dokumente. Stuttgart, 1977. Způsob komunikace s vedoucím semináře Všechny potřebné informace k obsahu a průběhu semináře obdrží studenti během úvodní hodiny. Následná komunikace probíhá především elektronickou formou nebo v konzultačních hodinách vedoucího semináře. Případné otázky k jednotlivým lekcím a úkolům zodpovídá vedoucí semináře elektronicky nebo osobně v konzultačních hodinách. Kontakt na vedoucího semináře: miroslav.urbanec@fpf.slu.cz Lektion 1: Naturalismus und antinaturalistische Strömungen Arno Holz: Ihr Dach stiess fast bis an die Sterne Ihr Dach stiess fast bis an die Sterne, Vom Hof her stampfte die Fabrik, Es war die richtge Miethskaserne Mit Flur- und Leiermannsmusik! Im Keller nistete die Ratte, Parterre gab's Branntwein, Grogk und Bier, Und bis ins fünfte Stockwerk hatte Das Vorstadtelend sein Quartier. Dort sass er nachts vor seinem Lichte – Duck nieder, nieder, wilder Hohn! – Und fieberte und schrieb Gedichte, Ein Träumer, ein verlorner Sohn! Sein Stübchen konnte grade fassen Ein Tischchen und ein schmales Bett; Er war so arm und so verlassen, Wie jener Gott aus Nazareth! Doch pfiff auch dreist die feile Dirne, Die Welt, ihn aus: Er ist verrückt! Ihm hatte leuchtend auf die Stirne Der Genius seinen Kuss gedrückt. Und wenn vom holden Wahnsinn trunken, Er zitternd Vers an Vers gereiht, Dann schien auf ewig ihm versunken Die Welt und ihre Nüchternheit. In Fetzen hing ihm seine Blouse, Sein Nachbar lieh ihm trocknes Brod, Er aber stammelte: O Muse! Und wusste nichts von seiner Noth. Er sass nur still vor seinem Lichte, Allnächtlich, wenn der Tag entflohn, Und fieberte und schrieb Gedichte, Ein Träumer, ein verlorner Sohn! Quelle: Arno Holz: Buch der Zeit. Berlin 21892, S. 485-487. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005094127 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Gedichts (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen, Vokabular). 2. Das Gedicht von Arno Holz beschäftigt sich mit einem für den Naturalismus typischen Thema: dem sozialen Elend in einer modernen Großstadt. Beschreiben Sie die Bilder, derer sich Holz bedient, und erklären Sie sie. 3. Der Dichter, von dem in Holz´ Gedicht die Rede ist, erscheint stark idealisiert. Der Naturalist Holz schreckt sogar vor den Entlehnungen aus der Bibel nicht zurück. Welche sind das? Wie wird der Dichter in Holz´ Gedicht dargestellt? 4. Schreiben Sie nun eine Kurzinterpretationen des Gedichts und fügen Sie in diese Interpretation Ihre Antworten auf die vorstehenden Fragen ein. Interpretieren Sie auch den Titel des Gedichts (= die erste Zeile des Gedichts): Was meint Holz, wenn er das Dach der beschriebenen Mietskaserne „fast bis an die Sterne“ stoßen lässt? Lektion 2: Naturalismus und antinaturalistische Strömungen Hugo von Hofmannsthal: Ballade des äußeren Lebens Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben, Und alle Menschen gehen ihre Wege. Und süße Früchte werden aus den herben Und fallen nachts wie tote Vögel nieder Und liegen wenig Tage und verderben. Und immer weht der Wind, und immer wieder Vernehmen wir und reden viele Worte Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder. Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen, Und drohende, und totenhaft verdorrte ... Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen Einander nie? und sind unzählig viele? Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen? Was frommt das alles uns und diese Spiele, Die wir doch groß und ewig einsam sind Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele? Was frommts, dergleichen viel gesehen haben? Und dennoch sagt der viel, der »Abend« sagt, Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben. Quelle: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Erste Reihe in drei Bänden, Band 1, Berlin 1924, S. 11-12. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005088119 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Gedicht · Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Gedichts (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen, Vokabular). 2. Das Gedicht von Hugo von Hofmannsthal besteht inhaltlich aus zwei Teilen. Bestimmen Sie diese Teile und fassen Sie ihren Inhalt zusammen. 3. Welche Rolle spielt in dem zitierten Gedicht das durch Anführungsstriche markierte Wort „Abend“? 4. Schreiben Sie eine Kurzinterpretation des Gedichts. Lektion 3: Expressionismus Ernst Stadler: Der Spruch In einem alten Buche stieß ich auf ein Wort, Das traf mich wie ein Schlag und brennt durch meine Tage fort: Und wenn ich mich an trübe Lust vergebe, Schein, Lug und Spiel zu mir anstatt des Wesens hebe, Wenn ich gefällig mich mit raschem Sinn belüge, Als wäre Dunkles klar, als wenn nicht Leben tausend wild verschlossne Tore trüge, Und Worte wiederspreche, deren Weite nie ich ausgefühlt, Und Dinge fasse, deren Sein mich niemals aufgewühlt, Wenn mich willkommner Traum mit Sammethänden streicht, Und Tag und Wirklichkeit von mir entweicht, Der Welt entfremdet, fremd dem tiefsten Ich, Dann steht das Wort mir auf: Mensch, werde wesentlich! Quelle: Ernst Stadler: Dichtungen, Band 1, Hamburg o.J. [1954], S. 109-110. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005708052 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Gedicht · Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Gedichts (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen, Vokabular). 2. Das Gedicht von Ernst Stadler ist ein Aufruf. Wonach ruft das lyrische Ich? 3. Welche Rolle spielt in dem zitierten Gedicht der Satz „Mensch, werde wesentlich“? Dieser Satz ist übrigens ein Zitat. Recherchieren Sie Informationen in der Sekundärliteratur oder im Internet und erklären Sie, wer der Autor dieses Satzes war und wie er ihn verstanden hat. 4. Schreiben Sie eine Kurzinterpretation des Gedichts. Lektion 4: Expressionismus Georg Trakl: Abendland Ihr großen Städte Steinern aufgebaut In der Ebene! So sprachlos folgt Der Heimatlose Mit dunkler Stirne dem Wind, Kahlen Bäumen am Hügel. Ihr weithin dämmernden Ströme! Gewaltig ängstet Schaurige Abendröte Im Sturmgewölk. Ihr sterbenden Völker! Bleiche Woge Zerschellend am Strande der Nacht, Fallende Sterne. Quelle: Georg Trakl: Das dichterische Werk. München 1972, S. 76-77. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005802431 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Gedichts (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen, Vokabular). 2. Das Gedicht von Georg Trakl kann als Kritik an der modernen, „abendländischen“ Zivilisation gelesen werden. Erklären Sie diese Kritik. Was bedeutet übrigens das Wort „Abendland“? 3. Trakl stilisiert sich in diesem Gedicht zu einem Propheten. Was prophezeit er dem Abendland? Wie ist vor allem die „schaurige Abendröte“ zu verstehen? 4. Schreiben Sie eine Kurzinterpretation des Gedichts. Lektion 5: Neue Sachlichkeit Kurt Tucholsky: Das Gesetz Mann und Frau und Frau und Mann – nach dem Happy End fängt ihr Leben erst an . . . Wohnungsnot und Herzensnot machen manche Ehe tot. Warum läßt man sich denn nicht scheiden? 's fehlt an Geld – und der Schmutz und der Schmutz . . . Und so zerrinnt das Leben beiden – so wie sie, sind hunderttausend ohne Schutz . . . Und unterdes – da sitzen sie im Reichstagshaus und knobeln sich neue Gesetze aus; ein gutes für Scheidung ist nicht dabei – Hört ihr den Schrei? Hört ihr den Schrei? Hört ihr den Schrei? Paragraph 5, Ziffer 4, Absatz 3. »Hör mal, Willy – jetzt ists aus! Noch ein fünftes Kind hat keinen Platz im Haus!« »Heul nicht, Liese, das hat keinen Sinn . . . hier hast du ne Adresse – geh mal hin!« Die Olsch, die macht das im Tarife – aber schlecht – und die Frau geht ein. Dann setzt es anonyme Briefe, und vier Kinder sind nun ganz allein . . . Und unterdes – da sitzen sie im Reichstagshaus und knobeln sich neue Gesetze aus – Für manche ist die Frau eine Milchmeierei – Hört ihr den Schrei? Hört ihr den Schrei? Hört ihr den Schrei? Paragraph 5, Ziffer 4, Absatz 3. Kleiner Dieb, der wird gehängt – großer Verbrecher kriegt noch was geschenkt. Wer da ausbrennt Kriegessaat – das nennt der Richter Landesverrat. Zehntausend warten ungeduldig in den Zellen, geduckt wie ein Tier . . . Die sind vorm Paragraphen schuldig – aber Menschen, Menschen wie wir! – Wach auf, wach auf, Barmherzigkeit! Ein neuer Ton – eine neue Zeit! Recht und Recht sind immer zweierlei . . . Hört ihr den Schrei? Hört ihr den Schrei? Hört ihr den Schrei? Macht euch frei! Macht euch frei! Macht euch frei! Quelle: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 7, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 199-200. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005816726 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Literatur·Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Gedichts (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen, Vokabular). 2. Das Gedicht von Kurt Tucholsky ist ein Beispiel für die zeit- und situationsbezogene „Gebrauchslyrik“ der Weimarer Republik. Was ist das Thema dieses Gedichts? 3. Schreiben Sie eine Kurzinterpretation des Gedichts. Was ist die „Moral“ dieses Gedichts? Wie sind vor allem die drei letzten Strophen zu verstehen? Lektion 6: Neue Sachlichkeit Kurt Tucholsky: Fort mit dem Schundgesetzt! Gegen das schlechte und böswillig eingebrachte Schund- und Schmutzgesetz haben sich viele Stimmen ernsthafter und berufener Leute erhoben – es besteht also alle Aussicht, daß es im Reichstag angenommen wird. Das darf nicht sein. Mit welchem frechen Leichtsinn hier von den sogenannten Gesetzgebern verfahren worden ist, zeigt die Tatsache, daß in der Entwurfsliste der Indexwerke Romane von Zapp, Dominik, Hackländer und Hauff enthalten waren, daß diese Romane von über dreihundert deutschen Tageszeitungen veröffentlicht worden sind, und zwar von Blättern aller Richtungen: von der ›Germania‹ bis zur ›Berliner Morgenpost‹. So wird hier gearbeitet. Das Gesetz verdankt der beispiellosen Naivität des Sozialdemokraten Heinrich Schulz seinen Ursprung, obgleich der die exceptio plurium geltend machen kann. Aber soll sich durch Kautelen jemals erreichen lassen, daß dieser Fetzen von Gesetz durch eine deutsche Verwaltungsbehörde nicht mißbraucht wird? Um das zu glauben, dazu gehört schon eine jahrzehntelange Vorbildung als Parteifunktionär. Wir andern sind nicht so pflaumenweich gläubig. Denn schon wird der Schwerpunkt der Diskussionen auf diese Kautelen gelegt – schon wird eine Reichskommission gefordert, Einstimmigkeit bei der Abstimmung und ähnliche Kindereien, die nichts helfen werden. Das ganze Gesetz hat zu fallen. Dieser Staat ist in seiner jetzigen Form weder legitimiert noch befähigt, Kulturgesetze zu erlassen; die tiefe Spaltung, die durch die Nation geht, hat in ihm keinen Niederschlag gefunden; er tut noch immer, als habe ers mit einer einigen Nation zu tun. Das ist nicht wahr. So wenig, wie der Oberreichsanwalt, der Reichspräsident, der Reichsinnenminister die ganze Nation vertreten, so wenig täte das einer der von den Soldaten hingemordeten Revolutionäre. Hier gibt es kein Kompromiß. Und weil dieser Zwiespalt nicht zu lösen ist, weil diese farblose und öde Gesetzesmaschine die subtile Frage: Bewahrung der Kinder vor Schund nicht sauber und gut zu lösen vermag – deshalb soll sies nicht schlecht tun und solls nicht so tun, daß dabei ein dunkler und übler Nebenzweck, nämlich eine politische Zensur mitaufgerichtet wird. Es gibt keine Schutzbestimmung gegen den Mißbrauch dieses Gesetzes – keine einzige. Die Taktiker werden, zu spät wie immer, merken, was sie angerichtet haben. Sie haben es nicht gewollt? Sie sehen nicht über die Türflügel ihrer Kommissionszimmer hinweg. Wer von den Linksparteien sich bei diesem Gesetz nach berühmten Mustern der Stimme enthält, wer nicht dagegen stimmt, der lügt den Willen seiner Wähler um, die keine Zensur wollen. Der Schundentwurf darf in gar keiner Form Gesetz werden – denn die Bewahrung einer ausgepowerten, wirtschaftlich rechtlosen Jugend vor ästhetischem Schmutz ist lange nicht so wichtig wie das kleine Eckchen Geistesfreiheit, das noch da ist. Laßt euch nicht einschläfern: die neunmal Weisen werden die Dummen sein. Was gebührt diesem Entwurf –? Ein Fußtritt. Die Weltbühne, 02.11.1926, Nr. 44, S. 704. Quelle: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 533-534. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005812488 Lizenz: Gemeinfrei Kategorien: Deutsche Literatur Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben sie die sprachliche Form der vorstehenden Reportage. 2. Tucholsky hat mit der oben zitierten Reportage in die Diskussion über die Einführung des sog. Schund- und Schmutzgesetzes eingegriffen, das 1926 vom deutschen Reichstag verabschiedet wurde. Was war das für ein Gesetz? Was war die Motivation für seine Einführung? Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet die nötigen Informationen und beantworten Sie die vorstehenden Fragen. 3. Welche Stellung nimmt Kurt Tucholsky in der Diskussion ein? Wie argumentiert er? Wovor warnt er? Lektion 7: Antifaschistische Literatur Bertolt Brecht: Schlechte Zeit für Lyrik Ich weiß doch: nur der Glückliche Ist beliebt. Seine Stimme Hört man gern. Sein Gesicht ist schön. Der verkrüppelte Baum im Hof Zeigt auf den schlechten Boden, aber Die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel Doch mit Recht. Die grünen Boote und die lustigen Segel des Sundes Sehe ich nicht. Von allem Sehe ich nur der Fischer rissiges Garnnetz. Warum rede ich nur davon Dass die vierzigjährige Häuslerin gekrümmt geht? Die Brüste der Mädchen Sind warm wie ehedem. In meinem Lied ein Reim Käme mir fast vor wie Übermut. In mir streiten sich Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. Aber nur das zweite Drängt mich zum Schreibtisch. Quelle: Emmerich, Wolfgang/ Heil, Susanne (Hg.): Lyrik des Exils. Stuttgart 2012, S. 256. Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die sprachliche Form des Gedichts (Metrum, Reim, Kadenz, Gliederung der Verse in Strophen, Vokabular). Das Gedicht arbeitet mit Kontrast. Welche Wahrnehmungen des lyrischen Ichs kontrastieren miteinander? 2. In diesem Gedicht (geschrieben 1939 im dänischen Exil) erklärt Brecht seine Motivation, Gedichte zu schreiben. Was bewegt ihn dazu? Er erklärt zugleich, warum er keine formvollendeten, „schönen“ Gedichte schreibt. Was ist der Grund dafür? Wie ist in diesem Kontext die zweite Strophe zu verstehen? Wie ist der Titel des Gedichts zu interpretieren? 3. Schreiben Sie eine Kurzinterpretation des Gedichts. Lektion 8: Antifaschistische Literatur Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre (Auszug) Desselben Tages ritten sie dorthin, der Herzog von Guise wie gewöhnlich mit reichem Gefolge, Navarra ganz allein. Noch immer kannte er Paris nicht sehr genau und horchte umsonst nach dem Namen der Kirche. Wo sie vorbeikamen, gab das Volk sich von Mund zu Mund ein Wort weiter. Das hieß: „Der König von Paris! Heil!“ Dieser König wurde gegrüßt mit der erhobenen rechten Hand. Die Frauen machten es wie die Männer, nur dass sie sich oft vergaßen und mit beiden Händen hinauflangten nach dem blonden Helden ihrer Träume. Der strahlte hinab auf Gerechte und Ungerechte wie die Sonne selbst, hochgemut und seiner Sache gewiss. So langten sie an, und als das viele Eisen der Kriegsleute zur Ruhe gekommen war, bestieg Pfarrer Boucher die Kanzel. Dies war ein Redner von neuer Art. Er schäumte beim ersten Wort, und seine rohe Stimme überschlug sich zum weibischen Gekreisch. Er predigte den Hass gegen die Gemäßigten. Nicht nur die Protestanten sollten verabscheut werden bis zur Vernichtung. In einer Nacht der langen Messer und der rollenden Köpfe wollte Boucher besonders abrechnen mit den Duldsamen, auch wenn sie sich katholisch nannten. Die Schlimmsten waren ihm in beiden Religionen die Nachgiebigen, die sich bereitfanden zur Verständigung und dem Land den Frieden wünschten. Den sollte das Land nicht haben, und Boucher behauptete tobend, dass es ihn gar nicht aushalten würde, weil er gegen seine Ehre wäre. Der Schmachfriede und aufgezwungene Vertrag mit den Ketzern würde hiermit zerrissen. Laut schrien der Boden und das Blut nach Gewalt, Gewalt, Gewalt, nach einer kraftvollen Reinigung von allem, was ihnen fremd wäre, von einer faulen Gesittung, einer zersetzenden Freiheit. Die gedrängte Masse bis hinter den Altar und in die entferntesten Kapellen bestätigte durch wildes Stöhnen, dass sie weder Gesittung noch besonders Freiheit zu dulden gewillt war. Die Leute drückten einander tot, um bis unter die Kanzel zu gelangen und den Redner zu erblicken. Sie sahen nichts als ein aufgerissenes Maul, denn Boucher war von verkümmerter Gestalt, er ragte nur wenig über den Rand. Dagegen spuckte er weithin. Seine Sprache entartete leicht zum Gebell, und was an ihr menschliches war, hatte doch kaum etwas zu tun mit den hier bekannten Lauten: es klang ausländisch und angelernt. Mehrmals konnte man glauben, jetzt bräche bei ihm die Fallsucht aus, und man sah sich schon nach Wärtern um. Da klappte Boucher den Kiefer zu und lächelte holdselig in die Runde, wodurch er die Herzen gewann. Mit neuem Atem bellte er weiter, schnappte zu und machte Miene, einen Andersgesinnten aus der Menge zu holen und ihn aufzufressen. Gewissensfreiheit, beileibe nicht! Aber auch keine Steuern mehr, keinen Mietzins, überhaupt keine Zinsknechtschaft – weder das Volk noch besonders die Geistlichkeit sollten künftig irgendetwas zahlen. Darin bestand ihr Bündnis. Die Geistlichkeit behielt hiernach die öffentliche Rente, die sie schuldig war, das Volk seinerseits durfte plündern in den Häusern und Palästen, bei allen Hugenotten, allen Gemäßigten, und diese besonders waren totzuschlagen. Boucher ermutigte seine Hörer, vor großen Herren nicht halt zu machen, auch vor den Größten nicht – und er erging sich in kaum versteckten Hinweisen auf den König, einen heimlichen Protestanten, Gemäßigten und Verräter. Er beschrieb ihnen, aus seiner Einbildung, die Schätze des Schlosses Louvre, zugleich mit dem ersehnten Blutbad. Ohne Übergang versetzte er sie aus ihrem Lustrausch in bleichen Schrecken, da sie verfolgt würden. Das Volk und alles Volkhafte wäre in höchster Gefahr, ausgeliefert zu werden an geheime Mächte, die ihnen Untergang geschworen hätten. Hier folgte ein Stoßgebet, das kam unverkennbar aus höchster Not. Die Menge, es hören und laut mitbeten. Über ihr indessen hing der Dampf, in den sie abwechselnd hatte ausströmen lassen ihre Gier, Furcht, Schwärmerei und ihren Hass. Quelle: Mann, Heinrich: Die Jugend des Königs Henri Quatre. Roman. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 415-416. Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Heinrich Manns Roman über das Leben des französischen Königs Heinrich IV. (Heinrich von Navarra), der in der berühmt-berüchtigten Bartholomäusnacht (1572) nur knapp dem Tod entgangen ist, ist kein gewöhnlicher Schlüsselroman. Einige Szenen lassen dennoch einen deutlichen Bezug auf die Gegenwart des Schriftstellers (1930er Jahre) erkennen. An welche Zeitgenossen von Heinrich Mann wird in der zitierten Passage angespielt? Wer versteckt sich hinter den Figuren von Guise und Boucher? Wie werden diese – historisch verbürgten – Figuren dargestellt? Wie ist ihr Charakter? 2. Die zitierte Passage ist voll von Phrasen, von denen die deutschnationale und vor allem die nationalsozialistische Propaganda regelmäßig Gebrauch gemacht hat und die den Zeitgenossen von Heinrich Mann somit wohlbekannt waren: Schmachfriede, aufgezwungener Vertrag, Zinsknechtschaft, Volk. Recherchieren Sie Informationen in der Sekundärliteratur oder im Internet und erklären Sie diese Phrasen. 3. Auch die „Nacht der langen Messer“ ist ein historischer Terminus. Erklären Sie ihn. 4. Schreiben Sie eine Kurzinterpretation der zitierten Passage. Konzentrieren Sie sich vor allem auf den Bezug der beschriebenen Szene auf die Gegenwart von Heinrich Mann. Lektion 9: Engagierte Literatur der Nachkriegszeit Max Frisch: Andorra (Auszüge) Der Tischler und der Lehrer sitzen vor der Pinte. (Der Lehrer bittet den Tischler, seinen Pflegesohn Andri auszubilden.) Lehrer Nämlich es handelt sich um meinen Sohn. Tischler Ich sagte: 50 Pfund. Lehrer – um meinen Pflegesohn, meine ich. Tischler Ich sagte: 50 Pfund. (…) Ich muss gehn. (…) Wieso will er grad Tischler werden? Tischler werden, das ist nicht einfach, wenn´s einer nicht im Blut hat. Und woher soll er´s im Blut haben? Ich meine ja bloß. Warum nicht Makler? Zum Beispiel. Warum nicht geht er zur Börse? Ich meine ja bloß… (…) Tischler Ich muss gehn. (…) Ich habe gesagt: 50 Pfund. Lehrer Das bleibt Ihr letztes Wort? Tischler Ich heiße Prader. Lehrer 50 Pfund? Tischler Ich feilsche nicht. Lehrer Sie sind ein feiner Mann, ich weiß… Prader, das ist Wucher, 50 Pfund für eine Tischlerlehre, das ist Wucher. Das ist ein Witz, Prader, das wissen sie ganz genau. Ich bin Lehrer, ich habe mein schlichtes Gehalt, ich habe kein Vermögen wie ein Tischlermeister – ich habe keine 50 Pfund, ganz rundheraus, ich hab sie nicht! Tischler Dann eben nicht. Lehrer Prader – Tischler Ich sagte: 50 Pfund. Der Tischler geht. * (Andri, der Soldat und der Idiot stehen vor der Pinte.) Soldat Ein Andorraner ist nicht feig. Sollen sie kommen mit ihren Fallschirmen wie die Heuschrecken vom Himmel herab, da kommen sie nicht durch, so wahr ich Peider heiße, bei mir nicht. Das steht fest. Bei mir nicht. Man wird ein blaues Wunder erleben! Andri Wer wird ein blaues Wunder erleben? Soldat Bei mir nicht. (…) Habt ihr das wieder gehört? Er meint, wir haben Angst. Weil er selber Angst hat! Wir kämpfen nicht, sagt er, bis zum letzten Mann, wir sterben nicht von wegen ihrer Übermacht, wir ziehen den Schwanz ein, wir scheißen in die Hosen, dass es zu den Stiefeln heraufkommt, das wagt er zu sagen: mir ins Gesicht, der Armee ins Gesicht! Andri Ich habe kein Wort gesagt. Soldat Ich frage: Habt ihr´s gehört? Idiot nickt und grinst. Soldat Ein Andorraner hat keine Angst! Andri Das sagtest du schon. Soldat aber du hast Angst! Andri schweigt. Soldat Weil du feig bist. Andri Wieso bin ich feig? Soldat Weil du Jud bist. Idiot grinst und nickt. * Stube beim Lehrer. Andri sitzt und wird vom Doktor untersucht, der ihm einen Löffel in den Hals hält, die Mutter daneben. (…) Andri Aaaaaaaa-Aaaaaaaaaaaaaaaandorra. Doktor So ist´s gut, mein Freund, so muss es tönen, dass jeder Jud in den Boden versinkt, wenn er den Namen unseres Vaterlands hört. (…) Andri Wieso – soll der Jud – versinken im Boden? Doktor (…) Das fragst du, mein junger Freund, weil du noch nie in der Welt gewesen bist. Ich kenne den Jud. Wo man hinkommt, da hockt er schon, der alles besser weiß, und du, ein schlichter Andorraner kannst einpacken. So ist es doch. Das Schlimme am Jud ist sein Ehrgeiz. In allen Ländern der Welt hocken sie auf allen Lehrstühlen, ich hab´s erfahren, und unsereinem bleibt nichts anderes übrig als die Heimat. Dabei habe ich nichts gegen den Jud. Ich bin nicht für Greuel. Auch ich habe Juden gerettet, obschon ich sie nicht riechen kann. Und was ist der Dank? Sie sind nicht zu ändern. Sie hocken auf allen Lehrstühlen der Welt. Sie sind nicht zu ändern. * Sakristei, der Pater und Andri. (…) Pater Du gefällst mir, Andri, mehr als alle andern, ja, grad weil du anders bist als alle. Was schüttelst du den Kopf? Du bist gescheiter als sie. Jawohl! Das gefällt mir an dir, Andri, und ich bin froh, dass du gekommen bist und dass ich es dir einmal sagen kann. Andri Das ist nicht wahr. Pater Was ist nicht wahr? Andri Ich bin nicht anders. Ich will nicht nicht anders sein. (…) Ich will mich nicht beliebt machen. Ich werde mich wehren. Ich bin nicht feig – und nicht gescheiter als die andern, Hochwürden, ich will nicht, dass Hochwürden das sagen. Pater Hörst du mich jetzt an? Andri Nein. (…) Ich mag nicht immer eure Hände auf meinen Schultern… (…) Pater Du machst es einem wirklich nicht leicht. (…) Kurz und gut, deine Pflegemutter war hier. Mehr als vier Stunden. die gute Frau ist ganz unglücklich. Du kommst nicht mehr zu Tisch, sagt sie, und bist verstockt. Sie sagt, du glaubst nicht, dass man dein Bestes will. Andri Alle wollen mein Bestes! (…) Wenn er (der Lehrer) mein Bestes will, warum, Hochwürden, warum will er mir alles geben, aber nicht seine eigene Tochter? Pater Es ist sein väterliches Recht – Andri Warum aber? Warum? Weil ich Jud bin. Pater Schrei nicht! Andri schweigt. Pater Kannst du nichts andres mehr denken in deinem Kopf? Ich habe dir gesagt, Andri, als Christ, dass ich dich liebe – aber eine Unart, das muss ich leider schon sagen, habt ihr alle: Was immer euch widerfährt in diesem Leben, alles und jedes bezieht ihr nur darauf, dass ihr Jud seid. Ihr macht es einem wirklich nicht leicht mit eurer Überempfindlichkeit. Andri schweigt und wendet sich ab. Quelle: Frisch Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern. In: Frisch Max: Stücke 2. Frankfurt am M. 1973, S. 185-285. Fragen zum Text: 1. Max Frischs ‚Andorra‘ handelt vom Leben und Tod eines jungen Mannes namens Andri, der von seiner Umgebung (fälschlicherweise) für einen Juden gehalten wird. Ein wichtiges Thema dieses Dramas sind die Probleme eines jungen Menschen, dem eine bestimmte Identität aufgezwungen wird. Was ist noch das Thema des zitierten Textes? 2. Charakterisieren Sie die Figuren: Warum treten sie unter Berufsbezeichnungen und nicht unter ihren Namen auf, was will der Autor damit sagen? Wie denken die Figuren? Kann man die Figuren als Personifizierungen von bestimmten Eigenschaften betrachten? Wenn ja, von welchen? 3. Schreiben Sie eine Kurzinterpretation des zitierten Textes und fügen Sie dieser Interpretation die Antworten auf die vorstehenden Fragen ein. Lektion 10: Engagierte Literatur der Nachkriegszeit Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (Auszug) CLAIRE ZACHANASSIAN Bürgermeister, Güllener. Eure selbstlose Freude über meinen Besuch rührt mich. Ich war zwar ein etwas anderes Kind, als ich nun in der Rede des Bürgermeisters vorkomme, in der Schule wurde ich geprügelt, und die Kartoffeln für die Witwe Boll habe ich gestohlen, gemeinsam mit Ill, nicht um die alte Kupplerin vor dem Hungertode zu bewahren, sondern um mit Ill einmal in einem Bett zu liegen, wo es bequemer war als im Konradsweilerwald oder in der Peterschen Scheune. Um jedoch meinen Beitrag an eure Freude zu leisten, will ich gleich erklären, dass ich bereit bin, Güllen eine Milliarde zu schenken. Fünfhundert Millionen der Stadt und fünfhundert Millionen verteilt auf jede Familie. Totenstille. DER BÜRGERMEISTER stotternd: Eine Milliarde. CLAIRE ZACHANASSIAN Unter einer Bedingung. Alle brechen in einen unbeschreiblichen Jubel aus. Tanzen herum, stehen auf die Stühle, der Turner turnt usw. Ill trommelt sich begeistert auf die Brust. ILL Die Klara! Goldig! Wunderbar! Zum Kugeln! Voll und ganz mein Zauberhexchen! DER BÜRGERMEISTER Unter einer Bedingung, haben gnädige Frau gesagt. Darf ich diese Bedingung wissen? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich will die Bedingung nennen. Ich gebe euch eine Milliarde und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit. Totenstille. DER BÜRGERMEISTER Wie ist dies zu verstehen, gnädige Frau? CLAIRE ZACHANASSIAN Wie ich es sagte. DER BÜRGERMEISTER Die Gerechtigkeit kann man doch nicht kaufen! CLAIRE ZACHANASSIAN Man kann alles kaufen. DER BÜRGERMEISTER Ich verstehe immer noch nicht. CLAIRE ZACHANASSIAN Tritt vor, Boby. Der Butler tritt von rechts in die Mitte zwischen die drei Tische, zieht die dunkle Brille ab. DER BUTLER Ich weiß nicht, ob mich noch jemand von euch erkennt. DER LEHRER Der Oberrichter Hofer. DER BUTLER Richtig. Der Oberrichter Hofer. Ich war vor fünfundvierzig Jahren Oberrichter in Güllen und kam dann ins Kaffiger Appellationsgericht, bis mir vor nun fünfundzwanzig Jahren Frau Zachanassian das Angebot machte, als Butler in ihre Dienste zu treten. Ich habe angenommen. Eine für einen Akademiker vielleicht etwas seltsame Karrierre, doch die angebotene Besoldung war derart phantastisch… CLAIRE ZACHANASSIAN Komm zum Fall, Boby. DER BUTLER Wir ihr vernommen habt, bietet Frau Claire Zachanassian eine Milliarde und will dafür Gerechtigkeit. Mit anderen Worten: Frau Claire Zachanassian bietet eine Milliarde, wenn ihr das Unrecht wieder gut macht, das Frau Zachanassian in Güllen angetan wurde. Herr Ill, darf ich bitten. Ill steht auf, gleichzeitig erschrocken und verwundert. ILL Was wollen Sie von mir? DER BUTLER Treten Sie vor, Herr Ill. ILL Bitte. Er tritt vor den Tischrechts. Lacht verlegen. Zuckt die Achseln. DER BUTLER Es war im Jahre 1910. Ich war Oberrichter in Güllen und hatte eine Vaterschaftsklage zu behandeln. Claire Zachanassian, damals Klara Wäscher, klagte Sie, Herr Ill, an der Vater ihres Kindes zu sein. Ill schweigt. DER BUTLER Sie bestritten damals die Vaterschaft, Herr Ill. Sie hatten zwei Zeugen mitgebracht. ILL Alte Geschichten. Ich war jung und unbesonnen. CLAIRE ZACHANASSIAN Führt Koby und Loby vor, Toby und Roby. Die beiden kaugummikauenden Monster führen die beiden blinden Eunuchen in die Mitte der Bühne, die sich fröhlich an der Hand halten. DIE BEIDEN Wir sind zur Stelle, wir sind zur Stelle! DER BUTLER Erkennen Sie die beiden, Herr Ill? Ill schweigt. DIE BEIDEN Wir sind Koby und Loby, wir sind Koby und Loby. ILL Ich kenne sie nicht. DIE BEIDEN Wir haben uns verändert, wir haben uns verändert. DER BUTLER Nennt eure Namen. DER ERSTE Jakob Hühnlein, Jakob Hühnlein. DER ZWEITE Ludwig Sparr, Ludwig Sparr. DER BUTLER Nun, Herr Ill? ILL Ich weiß nichts von ihnen. DER BUTLER Jakob Hühnlein und Ludwig Sparr, kennt ihr Herrn Ill? DIE BEIDEN Wir sind blind, wir sind blind. DER BUTLER Kennt ihr ihn an seiner Stimme? DIE BEIDEN An seiner Stimme, an seiner Stimme. DER BUTLER 1910 war ich der Richter und ihr die Zeugen. Was habt ihr geschworen, Ludwig Sparr und Jakob Hühnlein, vor dem Gericht zu Güllen? DIE BEIDEN Wir hätten mit Klara geschlafen, wir hätten mit Klara geschlafen. DER BUTLER So habt ihr vor mir geschworen. Vor dem Gericht, vor Gott. War dies die Wahrheit? DIE BEIDEN Wir haben falsch geschworen. Wir haben falsch geschworen. DER BUTLER Warum, Ludwig Sparr und Jakob Hühnlein? DIE BEIDEN Ill hat uns bestochen, Ill hat uns bestochen. DER BUTLER Womit? DIE BEIDEN Mit einem Liter Schnaps, mit einem Liter Schnaps. CLAIRE ZACHANASSIAN Erzählt nun, was ich mit euch getan habe, Koby und Loby. DER BUTLER Erzählt es. DIE BEIDEN Die Dame ließ uns suchen, die Dame ließ uns suchen. DER BUTLER So ist es. Claire Zachanassian ließ euch suchen. In der ganzen Welt. Jakob Hühnlein war nach Kanada ausgewandert und Ludwig Sparr nach Australien. Aber sie fand euch. Was hat sie dann mit euch getan? DIE BEIDEN Sie gab uns Toby und Roby. Sie gab uns Toby und Roby. DER BUTLER Und was haben Toby und Roby mit euch gemacht? DIE BEIDEN Kastriert und geblendet, kastriert und geblendet. DER BUTLER Dies ist die Geschichte: Ein Richter, ein Angeklagter, zwei falsche Zeugen, ein Fehlurteil im Jahre 1910. Ist es nicht so, Klägerin? Claire Zachanassian steht auf. CLAIRE ZACHANASSIAN Es ist so. ILL stampft auf den Boden: Verjährt, alles verjährt! Eine alte, verrückte Geschichte. DER BUTLER Was geschah mit dem Kind, Klägerin? CLAIRE ZACHANASSIAN leise: Es lebte ein Jahr. DER BUTLER Was geschah mit Ihnen? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich wurde eine Dirne. DER BUTLER Weshalb? CLAIRE ZACHANASSIAN Das Urteil des Gerichts machte mich dazu. DER BUTLER Und nun wollen Sie Gerechtigkeit, Claire Zachanassian? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich kann sie mir leisten. Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet. Totenstille. Frau Ill stürzt auf Ill zu, umklammert ihn. FRAU ILL Fredi! ILL Zauberhexchen! Das kannst du doch nicht fordern! Das Leben ging doch längst weiter! CLAIRE ZACHANASSIAN Das Leben ging weiter, aber ich habe nichts vergessen, Ill. Weder den Konradsweilerwald noch die Petersche Scheune, weder die Schlafkammer der Witwe Boll noch deinen Verrat. Nun sind wir alt geworden, beide, du verkommen und ich von den Messern der Chirurgen zerfleischt, und jetzt will ich, dass wir abrechnen, beide: Du hast dein Leben gewählt und mich in das meine gezwungen. Du wolltest, dass die Zeit aufgehoben würde, eben, im Wald unserer Jugend, voll von Vergänglichkeit. Nun habe ich sie aufgehoben, und nun will ich Gerechtigkeit, Gerechtigkeit für eine Milliarde. Der Bürgermeister steht auf, bleich, würdig. DER BÜRGERMEISTER Frau Zachanassian: Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt. Riesiger Beifall. CLAIRE ZACHANASSIAN Ich warte. Quelle: Bohn, Volker (1995): Deutsche Literatur seit 1945. Texte und Bilder. Frankfurt am Main, S. 153-158. Fragen zum Text: 1. ‚Der Besuch der alten Dame‘ handelt vom Besuch der alten Milliardärin Claire Zachanassian (Klara Wäscher) in ihrer früheren Heimatstadt Güllen. Die verarmte Bevölkerung der Stadt verspricht sich von diesem Besuch Investitionen, mit denen die Wirtschaft neu angekurbelt werden könnte. Claire kommt jedoch nach Güllen, um für das alte, an ihr verübte Unrecht Rache zu nehmen, und verspricht den Güllenern eine Milliarde, wenn sie ihren ehemaligen Geliebten Alfred Ill töten. Eine scheinbar unmögliche Bedingung, die sofort brüsk abgelehnt wird. Dennoch will Claire warten. Worauf rechnet sie? Welche Ansichten vertritt sie? Was ist das Thema des Stücks? Nehmen Sie in Betracht die Entstehungszeit des Stücks (1950er Jahre). Was war das für eine Zeit? Wie werden diese Jahre in der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet? Recherchieren Sie Informationen in der Sekundärliteratur oder im Internet. 2. Friedrich Dürrenmatt verwendet in seinem Drama zahlreiche sprechende Namen. Erklären Sie mit Hilfe der Sekundärliteratur oder des Internets die Namen von Claire Zachanassian alias Klara Wäscher, Alfred Ill, Koby, Loby, Toby und Roby. Erklären Sie auch die Bedeutung des Namens „Güllen“. 3. Schreiben Sie eine Kurzinterpretation der zitierten Szene und fügen Sie in diese Interpretation die Antworten auf die vorstehenden Fragen ein. Lektion 11: Politisierte Literatur und „Neue Subjektivität“ Nicolas Born: Entsorgt So wird der Schrecken ohne Ende langsam normales Leben Zuschauer blinzeln in den Hof im Mittagslicht Kleinstadt, harte Narbe ziegelrot Gasthaus, wehende Gardinen und am Schreibtisch ist jetzt gering der persönliche Tod Ich kann nicht sagen, wie die Panik der Materie wirkt, wie ich in meiner Panik die nicht persönlich ist, nur an die falschen Wörter komme. Das sorgend Schöne fehlt mir an Krypton und Jod 129. Mir fehlt die Zukunft der Zukunft mir fehlt sie. Mir fehlen schon meine Kindeskinder Erinnerung an die Welten mir fehlen Folgen, lange Sommer am Wasser harte Winter, Wolle und Arbeit Hier entstehen Folgen starker Wörter die leblos sind, das verruchte Gesindel spürt nichts, sie schließen die Kartelle keine Ahnung was sie in die Erde setzen Ahnung nicht, nur Wissen was sie in die Erde setzen in Luft und Wasser für immer kein Gefühl für „immer“. Den Tod sonderbehandeln sie wie einen Schädling der gute Tod vergiftet wie die liebe Not. Was schändet ihr die Gräber meiner Kindeskinder was plündert ihr den Traum der Materie, den Traum der Bilder, des Gewebs, der Bücher Knochen. Die Trauer ist jetzt trostlos die Wut ohne Silbe, all die maskierte Lebendigkeit all die würgende Zuversicht Gras stürzt, die Gärten stürzen, niemand unterm Geldharnisch fühlt die Wunde entsorgt zu sein von sich selbst. Kein Gedicht, höchstens das Ende davon. Menschenvorkommen gefangen in verruchter Vernunft, die sich nicht einmal weiß vor Wissenschaft. Kein Schritt mehr frei, kein Atem kein Wasser unerfaßt, käufliche Sommerspuren die Haut der Erde - Fotoabzüge die betonierte Seele, vorbereitetes Gewimmer das dann nicht mehr stattfindet vor Stimmgebrochenheit. Winzige Prozeßrechnungen in der hohlen Hand beleben die Erde, alleswissende Mutanten dafür totaler Schutz vor Erfahrungen. Lebensstatisten, Abgänger. Am Tropf der Systeme. Gekippte Wiesenböschung, Engel, Ungewisse, warmer Menschenkörper und Verstehn Gärten hingebreitet, unter Zweigen Bänke... ....... Schatten ......Laub ... im Wind gesprochen .........................Samen Quelle: Bohn, Volker (1995): Deutsche Literatur seit 1945. Texte und Bilder. Frankfurt am Main, S. 330-331. Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die Form des Gedichts (Metrum, Kadenz, Reim, Gliederung der Verse in Strophen, Vokabular). 2. Borns Gedicht ist eine Reaktion auf die Entscheidung der niedersächsischen Regierung, in der kleinen Gemeinde Gorleben eine Wiederaufarbeitungsanlage und ein Atommülllager zu errichten. Recherchieren Sie in der Sekundärliteratur oder im Internet Informationen zu diesem Unternehmen und schreiben Sie mit Hilfe dieser Informationen eine Kurzanalyse von Borns Gedicht. Wie reagiert der Dichter auf den Bau der Atomanlagen? Welche Stellung nimmt er ein? Wie ist der Titel des Gedichts: ‚Entsorgt‘, zu verstehen? Lektion 12: Politisierte Literatur und „Neue Subjektivität“ Rolf Dieter Brinkmann: Einen jener klassischen schwarzen Tangos in Köln, Ende des Monats August, da der Sommer schon ganz verstaubt ist, kurz nach Laden Schluß aus der offenen Tür einer dunklen Wirtschaft, die einem Griechen gehört, hören, ist beinahe ein Wunder: für einen Moment eine Überraschung, für einen Moment Aufatmen, für einen Moment eine Pause in dieser Straße, die niemand liebt und atemlos macht, beim Hindurchgehen. Ich schrieb das schnell auf, bevor der Moment in der verfluchten dunstigen Abgestorbenheit Kölns wieder erlosch. Quelle: Bohn, Volker (1995): Deutsche Literatur seit 1945. Texte und Bilder. Frankfurt am Main, S. 331-332. Fragen und Aufgaben zum Text: 1. Beschreiben Sie die Form des Gedichts (Metrum, Kadenz, Reim, Gliederung der Verse in Strophen, Vokabular). 2. Brinkmann beschreibt in seinem Gedicht den Alltag in Köln (Alltagspoesie). Wie wird die Realität der Großstadt beschrieben? Was passiert dem lyrischen Ich auf dem Weg durch die Stadt? Von welchem Wunder ist hier die Rede? Ähnlich wie Brechts Gedicht ‚Schlechte Zeit für Lyrik‘ thematisiert auch Brinkmanns Gedicht das Gedichteschrieben. Wie? 3. Schreiben Sie eine Kurzinterpretation des Gedichts und fügen Sie in diese Interpretation die Antworten auf die vorstehenden Fragen ein. Okruhy ke zkoušce Zkouška proběhne formou diskuze nad vypracovanými úkoly. Termín odevzdání portfolia s vypracovanými úkoly bude stanoven během prvního semináře.