Lexikon und Grammatik Die Strukturen der deutschen Wörter Ein Überblick Christine Römer Römer-Medien * Jena (2020) @ 2020 Die Publikation einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Internet: http://www.christine-roemer.de/Lehrmaterialien E-Mail: tex@¢hristine-roemer.de Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis i Vorbemerkungen iii 1 Verbindung von Lexikon und struktureller Grammatik 1 1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Gemeinsame Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2.1 Das Form-Substanz-Inhalt-Prinzip . . . . . . . 2 1.2.2 Kompositionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2.3 Reduktionismus vs. Holismus . . . . . . . . . . 5 1.2.4 Das Projektionsprinzip . . . . . . . . . . . . . . 5 2 Komplexe Wörter 9 2.1 Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.2 Bedeutungstragende Wortteile . . . . . . . . . . . . . . 10 2.3 Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3 Wortstrukturen 13 3.1 Methoden der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3.1.1 Segmentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3.1.2 Distribution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3.1.3 Konstituentenanalyse . . . . . . . . . . . . . . 14 i) Strukturbäume . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 i Inhaltsverzeichnis ii) Klammerschreibungen . . . . . . . . . . . . 16 iii) Diagramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 4 Wortbildungsstrukturen im Deutschen 17 4.1 Kompositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 4.1.1 Kopulativkomposition . . . . . . . . . . . . . . 19 4.1.2 Determinativkomposition . . . . . . . . . . . . 20 4.2 Derivationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4.2.1 Präfigierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4.2.2 Suffigierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4.2.3 Zirkumfixderivation (kombinatorische D.) . . . 28 4.2.4 Implizite Derivation . . . . . . . . . . . . . . . 28 4.3 Lexikalische Kürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4.3.1 Kurzwörtertypen nach Position der„Reste“ . . . 31 4.3.2 Kurzwörtertypen nach „Art“ . . . . . . . . . . . 32 Literatur 34 ii Vorbemerkungen Diese Publikation ist primär als Ergänzung zu Römer (2019) gedacht und natürlich auch unabhängig davon rezipierbar. Die in der Regel authentischen, nummerierten Beispiele sind mit hellblauen Rahmen hervorgehoben. iii Kapitel 1 Verbindung von Lexikon und struktureller Grammatik 1.1 Einführung Wie u. a. in Römer (2019) ausführlich dargelegt, gehört das Lexikon zu Lexikon: Inhalt den Grundelementen der menschlichen Sprachfähigkeit. Es beinhaltet alle Lexikoneinheiten mit ihren Charakteristika (Lexikoneinträgen). Zu den Lexikoneinheiten gehören neben den Wurzelmorphemen, den Wörtern und Wendungen auch die grammatischen und wortbildenden Morpheme. Außerdem sind die grammatischen und wortbildenden Regeln und Muster notwendige Bestandteile. Ob die Wortbildungsregeln und -muster getrennt von denen der Morphologie, Syntax, Phonetik und Graphematik – der Grammatik –, exis- Grammatik: strukturelle tieren bzw. ob sie nach den gleichen morphologischen und syntaktischen Prinzipien – der strukturellen Grammatik – funktionieren, ist um- stritten.1 Hier wollen wir speziell von der Beziehungen des Lexikons zur 1Beispielsweise, Meibauer, S. 154, unterschied 2003 mit Bezug auf die Wortbildung »zwischen linearen (derivationellen), syntaktischen und gemischten Modellen«. 1 1.2. Gemeinsame Prinzipien Grammatik im engeren Sinn sprechen. G[rammatik] als Wissen bzw. Lehre von den morphologischen und syntaktischen Regularitäten einer natürlichen Sprache. In diesen »traditionellen« Sinn bezieht sich G[rammatik] auf den formalen Aspekt von Sprache. (Bußmann) Diskussionen über die Vor- und Nachteile verschiedener grammatischer Modelle sind in diesem Zusammenhang nicht vorgesehen und auch nicht relevant. Sternefeld (2006, S. 1) hebt zu den strukturellen Gemeinsamkeiten von Morphologie und Syntax hervor, dass »sich einige der in der Syntax relevanten strukturaufbauenden Mechanismen auch in der Morphologie nachweisen« lassen. Besonders relevant seien »die zentralen syntaktischen Begriffe des Kopfes und der Projektion, die auch in der Wortbildung ein Analogon haben«. Außerdem, »Morphologie und Syntax sind als Schnittstellen in der Lage, Ausdrucks- und Inhaltsseite der Sprache zu verbinden«. 1.2 Gemeinsame Prinzipien 1.2.1 Das Form-Substanz-Inhalt-Prinzip Sprachliche Formen müssen notwendigerweise eine Relation zwischen sprachlichen Substanzen (phonisches, graphisches und/oder gestisches Material) und Inhalten (Sinn und Bedeutung) herstellen. Ohne Inhalt kann sich keine sprachliche Substanz ergeben und ohne sprachliche Substanz kann kein Inhalt vermittelt werden. Dabei ist die Substanz, wie schon Aristoteles, de Saussure und andere betonten, nicht mit den sprachlichen Formen gleichzusetzen. Wobei beachtet werden muss, dass der Formbegriff in der Linguistik mit verschiedenen Inhalten verwendet wird. In unserem Zusammenhang verwenden wir Form als Verbin- 2 1.2. Gemeinsame Prinzipien dungselement zwischen Substanz und Inhalt, wie schon Eisler 1903 in seinem Wörterbuch der philosophischen Begriffe2 : Form (eidos, morphê forma) und Stoff (s. d.) sind Korrelata, Reflexionsbegriffe (s. d.). Die Form eines Objekts ist allgemein das »Wie« desselben im Unterschiede vom »Was«, vom Inhalte. »Form« heißt jede (äußere oder innere, materielle oder geistige) Ordnungseinheit in einer Mannigfaltigkeit von Bestandteilen einer Sache, eines Geschehens, eines Gedankens, eines Kunstwerkes. Die Art und Weise des Zusammenhanges, der Verknüpfung von Teilen in einem Ganzen bildet die Form eines Objekts. Formen stehen demnach für lexikalische und grammatische Typen. Formen in diesem sprachphilosophischen Sinn sind von den Formativen (Zeichenkörpern) und Wortformen zu unterscheiden. Beispielsweise kann eine spezielle Folge von Buchstaben (Fahrrad) als Stellvertreter für eine Sache (Bedeutung) verwendet werden und in der Form eines Wortes verwendet werden, wie Abbildung ?? schematisiert. Sprachliches Zeichen Zelt grafische Substanz Zelt Inhalt  Form Wort Abbildung 1.1: ... Man kann u. a. auch mit den syntaktischen Formen Wortgruppe (Phrase) oder Satz kommunizieren. Prinzipiell ist der Mechanismus identisch. 2https://www.textlog.de/4083.html; Zugriff 06.05. 2019 3 1.2. Gemeinsame Prinzipien Sprachliches Zeichen Bewölkung mit Regen grafische Substanz Bewölkung mit Regen Inhalt ! Form NP-Phrase Abbildung 1.2: ... 1.2.2 Kompositionalität Bei der Verbindung der syntaktischen und semantischen Wissensmodule über die Schnittstellen, spielt das Kompositionalitätsprinzip eine zentrale Rolle: »Compositionality in the Mapping from the Lexicon to Syntax« ist beispielsweise eine Kapitelüberschrift in Pustejovsky und Batiukova (2019). Es wird da auch verdeutlicht, dass »Compositionality is an essential property of complex linguistic expressions«. Diese Prinzip, auch Frege-Prinzip genannt, wird von Dölling (2009) strikt definiert: Die Bedeutung eines syntaktisch komplexen Ausdrucks ergibt sich vollständig und eindeutig aus der Bedeutung seiner unmittelbaren syntaktischen Teile und der Art und Weise, wie diese syntaktisch miteinander verknüpft sind. Der Frage, ob es in dieser strengen Form auch in der Wortbildung gilt, ist dahingehend geklärt, dass es nicht schwer ist, Komposita zu finden, bei denen sich die Wortbedeutungen nicht »vollständig und eindeutig aus der Bedeutung seiner unmittelbaren syntaktischen Teile« ergibt. Beispielsweise ist Himbeere im Gegensatz zu dem durchsichtigen Kompositum Blaubeere teilweise durch die unikale Konstituente him undurchsichtig. Es gibt also Wörter, die nicht problemlos morphologisch zerlegbar sind. Trotzdem ist es nicht sinnvoll, das Kompositionalitätsprinzip 4 1.2. Gemeinsame Prinzipien für die Wortbildung zu verneinen. Es trifft in der abgeschwächten Variante zu: Die Bedeutung einer komplexen Struktur ergibt sich aus der Bedeutung ihrer Teile. Damit werden nur völlig idiomatisierte Lexeme wie Salbader (‘Schwätzer’) ), die keine erhellende Konstituentenstruktur mehr aufweisen, ausgeschlossen, da die Mehrheit der Sprachgemeinschaft nicht mehr erkennt, dass es auch den Teilen Sal und Bader gebildet wurde. 1.2.3 Reduktionismus vs. Holismus Die Annahme der Kompositionalität ist eng mit dem Theorem des Reduktionismus verknüpft, das davon handelt, dass ein Ganzes (Holon), ein System, ein Organismus über seine Einzelteile erklärt werden kann. Der Antireduktivismus, die holistische Weltsicht, dagegen sieht im Ganzen dagegen mehr als die Summe seiner Teile. Sie gehen außerdem von einer Untrennbarkeit der Betrachtungsebenen aus und lehnen eine isolierte Betrachtung von Teilkomponenten ab. Bezüglich des Lexikons führt der Reduktionismus zu molekularen Analysen von Einheiten, der Antireduktionismus beschreibt das sprachliche Wissen über mentale Schemata, „die nicht alle, sondern die wichtigsten bzw. relevanten Charakteristika eines Gegenstands oder Sachverhalts repräsentieren."(Rickheit, Weiss und Eikmeyer 2010) 1.2.4 Das Projektionsprinzip Grewendorf (2002, S. 20) definiert im theoretischen Rahmen der Generativen Grammatik: Die Argumentstruktur eines lexikalischen Elements muss auf jeder syntaktischen Repräsentationsebene erhalten blei- ben. 5 1.2. Gemeinsame Prinzipien Damit ist u. a. gemeint, dass Wörter aus dem Lexikon spezifische Merkmale mitbringen, die sie in größere Strukturen einbringen (aus dem Lexikon projizieren). Besonders relevant ist dabei die Kopfkonstituente (head), die die grammatischen Eigenschaften einer syntaktischen Kon- Kopf struktion festlegt. So können lexikalische Basiselemente, wie Wörter und Morpheme, Kategorienmerkmale einbringen und projizieren, dies sollen die nachfolgenden Beispiele für lexikalische Konstruktiostypen verdeutlichen. • Wort+Wort (Komposition): giftgrün (Adjektiv) Gift (Nomen) grün (Adjektiv) Der Kopf grün bringt die Wortart für das gesamte Wort ein. Entsprechend dem Projektionsprinzip ist diese Kategorienzuschreibung auch mit der Einbindung in eine Phrase oder einen Satz nicht veränderbar. Die Wortbildung giftgrün ist und bleibt ein Ad- jektiv. • Wort+Wortbildungsmorphem der Schwimmer (Nomen; maskulin) schwimm- (Verbstamm) -er (Nomen-bildend; maskulin) Das Suffix -er bildet den grammatischen Kopf und legt die Wortart fest. • Wort+grammatisches Morphem 6 1.2. Gemeinsame Prinzipien Sie lacht (Präsens) Sie lach t (Präsens) Das grammatische Morphem -t markiert u. a. das Tempus am Verbstamm und projiziert dies in den gesamten Satz. Wörter, können die Eigenschaft der Valenz (Wertigkeit) haben, Ergän- Valenz zungen spezifischer Art im Satz verlangen, um ihre Bedeutung zu realisieren. So verlangen (selegieren) beispielsweise einwertige Verben, wie schwimmen oder verblühen, eine Ergänzung (einen Aktanten) mit spezifischen Eigenschaften, die in das Syntagma projiziert werden. Diese Verben verlangen jeweils ein Subjekt. Die zweiwertigen Verben lesen und besuchen verlangen zwei Aktanten für ihre Bedeutungsrealisierung im Satz. In der Überschrift (1) bildet das dreiwertige Verb fordern den syntaktischen Ausgangspunkt. Beispiel 1. Politiker fordert Parkgebühren für Fahrräder (Thüringische Landeszeitung; 08.05. 2019) fordern hat dabei die Lesart ‘von jemandem nachdrücklich verlangen, dass er etwas realisiert’ 3 und bringt aus dem Lexikon die folgende Argumentstruktur mit, die im Satz realisiert wird. Argument 1 fordern Argument 2 Argument 3 Politiker fordern Parkgebühren für Fahrräder Subjekt im Nominativ Akkusativobjekt Präpositionalobjekt jemand/etwas etwas von / für jemand obligatorisch obligatorisch fakultativ Im Rahmen der Wortbildung sind diesbezüglich die Rektionskomposita von Belang, da zwischen den Konstituenten eine Argumentstruktur Rektions- komposition3https://grammis.ids-mannheim.de/verbvalenz/400605 7 1.2. Gemeinsame Prinzipien besteht: Die erste Konstituente ist ein Argument der Zweiten, so wird in diesen Fällen die semantische Relation zwischen den Konstituenten grammatisch festgelegt. In der nachfolgenden Überschrift ist das Rektionskompositum Besuchsverbot enthalten: Beispiel 2. Besuchsverbot für Öcalan aufgehoben (https://www.bluewin.ch/de/news/international/: 16.05 2019) Verbot ist eine implizite Ableitung von dem zweiwertigen Verb verbieten mit der Argumentstruktur /jemand (nom) erklärt etwas (akk) für unzulässig/. Diese Argumentstruktur wird auch im Rektionskompositum Besuchsverbot (Parkverbot, Alkoholverbot, Rauchverbot ...) realisiert (Abb. 1.3). Kompositum Besuchsverbot Nomen Besuch(s) Kopfnomen Verbot (+ Patiens) Abbildung 1.3: Rektionskompositum Das Verb verbieten kann auch mit freien Angaben (wie zur Zeit, der Artund Weise oder dem Ort) verknüpft werden. Wenn so eine freie Angabe in die Argumentposition eines Kompositums kommt, handelt es sich nicht um ein Rektionskompositum, wie in dem folgenden Beispiel4 ; das Verbotsobjekt wird hier außerhalb des Kompositums realisiert. Beispiel 3. ein Schnellverbot für den Import bestimmter Produktionen und Pflanzenmaterialien besteht 4https://www.fruchtportal.de/artikel/ ava-asaja-ec-verweigert[...]/034615; Zugriff 23.05. 2019 8 Kapitel 2 Komplexe Wörter • Christine Römer (2019). Der deutsche Wortschatz. Tübingen: narr, Kap. 3 2.1 Charakterisierung Einfache Wörter (Simplizia) sind Wörter, die aus Sicht der gegenwärtigen Sprachnutzer morphologisch nicht komplex sind, nur aus einem Morphem (kleinste bedeutungstragende Einheit) bestehen. In dem nachfolgenden Beispielen typischer Überschriften treten nur in b) zwei morphologisch einfache Wörter auf (so und ernst. Dabei ist ernst ein Ableitung von dem Substantiv der Ernst. Beispiel 4. a) Bundeskabinett stimmt Zulassung von E-Trettrollern zu (https://www.zeit.de/; 23.05. 2019) b) So ernst, so politisch 9 2.2. Bedeutungstragende Wortteile (https://www.taz.de/Wahlerfolg-von-Die-Partei/!5598103/; 30.05. 2019) Wörter können in verschiedener Hinsicht komplex sein; siehe Römer (2019, Kap. 3.2). Hier soll nur die morphosyntaktische Komplexität angesprochen werden. Die morphosyntaktische Transparenz folgt dem semantischen Prinzip der Kompositionaliät, das in Kapitel 1.2.2 besprochen wurde. Dieses besagt, dass in der Regel die Bedeutung eines komplexen syntaktischen Ausdrucks durch die Bedeutung seiner Teile bestimmt ist, wie in den folgenden Beispielen. Beispiel 5. die roten Schuhe > Schuhe, die rot sind [Schuhe + rot] Lederschuhe > Schuhe, die aus Leder sind [Schuhe + Leder] waschbar > möglich zu waschen [bar- + waschen] Transparenz liegt nur dann vor, wenn die komplexen morphosyntak- Transparenz tischen Einheiten in einzelne Komponenten zerlegbar sind und es so ermöglichen, über die Bedeutungen dieser einzelnen Komponenten, die Gesamtbedeutung auszumachen, wie in den obigen Beispielen (5-7). Wörter, die morphologisch nicht segmentierbar sind, sind nicht transparent (intransparent). Dies ist beispielsweise bei die Saat (’das Gesäte’) der Fall. Hier ist die Verbindung zu säen morphologisch nicht deutlich. Im Zuge der Lexikalisierung wird die Transparenz oftmals nach und nach eingeschränkt. Bei idiomatische Ausdrücken ist die Feststellung der Transparenz schwierig bis unmöglich (wie bei blaumachen). 2.2 Bedeutungstragende Wortteile Wie ausgeführt, bestehen komplexe Wörter aus mehreren bedeutungshaltigen Komponenten, die jeweils einen spezifischen Beitrag zu Gesambedeutung beitragen. Die Kenntnis über diese Komponenten ermöglicht es u. a. auch neue Wörter zu verstehen. 10 2.3. Regeln Dies ist beispielsweise bei der neuen Wortbildung der Mikroplastikfilter der Fall (8.): Beispiel 6. Unsere Mikroplastikfilter für Gullys sind schon seit einem Jahr in der Berliner Clayallee im Einsatz“, berichtet Venghaus (https://www.sueddeutsche.de/wissen/umweltverschmutzung-mitfiltern-...; 28.02. 2018; Zugriff 17.06. 2019). Dieser Neologismus besteht aus den zwei Teilen Mikroplastik und Filter und kann als ‘Filter für Mikroplastik’ interpretiert werden. Mikroplastik besteht seinerseits aus den Elementen mikro und Plastik (‘mikro (kleine) Plastikteilchen’). Auch Filter ist morphologisch abgeleitet, nach Dudenonline hat es die herkunft: „älter Filtrum < mittellateinisch filtrum = Durchseihgerät aus Filz, aus dem Filz zugrunde liegenden germanischen Wort“1 Morphologisch besteht das Wort aus Morphemen. Siehe weiter Christine Römer (2019). Der deutsche Wortschatz. Tübingen: narr, Kap. 2.4. Morpheme Basis- Wortbildungs- Flexions- (Fugenelemente) Präfixe Zirkumfixe Suffixe 2.3 Regeln Konstituentenstrukturregeln (wie NP-> Det(AP)N(PP)) zeigen die unmittelbare Konstituenten von Ketten, deren Zugehörigkeit zu grammatischen Kategorien und Reihenfolge der Bestandteile an. 1https://www.duden.de/rechtschreibung/Filter; Zugriff 17.06. 2019 11 2.3. Regeln Wortbildungsregeln (wie Verb + ung > N) können untergegangen oder aktiv sein. Sie sind potentielle Bildungsmuster. 12 Kapitel 3 Wortstrukturen • https://home.uni-leipzig.de/muellerg/mu745.pdf (Gereon Mülller:„Die Analyse der Wortstruktur“) 3.1 Methoden der Analyse 3.1.1 Segmentierung Eine analytische Zerlegung eines sprachlichen Zeichens in aufeinanderfolgende Teilabschnitte nennt man Segmentierung. Die Zerlegung kann in verschiedener Hinsicht erfolgen, beispielsweise nach den Segmenten Morpheme, Silben, Phoneme oder Wortgruppen. 3.1.2 Distribution Die Distribution eines sprachlichen Elements ist die Summe der Kontexte, in denen es auftreten kann. Man unterscheidet darauf u. a. Dis- 13 3.1. Methoden der Analyse tributionsklassen. „Eine Distributionsklasse ist eine Menge der sprachlichen Elemente, die dieselbe Position in der lexikalischen oder grammatischen Struktur besetzen können und sich dabei auch koordinieren lassen.“ (Ágel 2017, S. 337). Wenn man beispielsweise das Verb sein durch ein Vollverb ersetzen kann, ist es ein Vollverb (wie in 7 a)), wenn nicht, ein Hilfsverb (wie in 7 b)). Beispiel 7. a) Sie ist in Jena. → Sie wohnt/studiert/...in Jena. b) Sie ist nach Jena gezogen. → * Sie studiert nach Jena gezogen. 3.1.3 Konstituentenanalyse Die Konstituentenanlyse (IC-Analyse: immediate constituent analysis) zerlegt sprachliche Zeichen schrittweise nach ihrer Konstituentenhierarchie. Satz-, Wort- und Silbenanalysen sind üblich. Bei jedem Analyseschritt wird ein Element in seine unmittelbaren Konstituenten zerlegt. Bei der Konstituentenanalyse werden Syntagmen (binäre Strukturen) jeweils in zwei maximale Segmente geteilt, diese wieder in zwei Segmente etc., bis die letzten Konstituenten (meist als Morpheme) übrig sind. Jedes Segment ist eine Konstituente und gleichzeitig eine Konstruktion (bis auf Morpheme). Durch diese Segmentierung wird die Hierarchie der Syntagmen aufgezeigt. Sie werden als Strukturbäume, Dependenz und Konstituenz, oder Diagramme und Klammerungen veranschaulicht. Die nachfolgenden Beispiele zeigen die Analyse des Wortes Wareneingangsbuch auf. i) Strukturbäume Zusätzlich zur Hierarchie können grammatische Kategorisierungen eingezeichnet werden. 14 3.1. Methoden der Analyse Mit Wortartenbezeichnungen: N N FE Ware n N N FE Aff ein V’ gang s N buch Legende: N Substantiv V Verb V’ Verb mit Vokalwechsel FE Fugenelement Aff Affix Morphembaum: Wort Stamm BM FE Ware n Stamm Stamm FE WBM Präf ein V’ gang s Wu BM buch Legende: Stamm Stamm WBM Wortbildungsmorphem Präf Präfix Suff Suffix Wu Wurzel 15 3.1. Methoden der Analyse ii) Klammerschreibungen [N[N,FEWaren][N[N[Affein][V’,FEgangs]][Nbuch]]] iii) Diagramme Waren eingangs buch Segmentieren Sie die unterstrichenen Wörter und fertigen Konstituentenanalysen an. Bei einem Brand auf einem Feld bei Korbußen sind am Dienstagabend gegen 21 Uhr 100 von 1000 Strohballen vernichtet worden. Wie die Polizei am Mittwoch mitteilte, brachen durch das Ausmaß des Feuers zudem mehrere Pferde einer angrenzenden Koppel aus und rannten in Richtung Autobahn 4. (TLZ.de; 25.09. 2019) 16 Kapitel 4 Wortbildungsstrukturen im Deutschen • Christine Römer (2019). Der deutsche Wortschatz. Tübingen: narr, Kap. 3.3 4.1 Kompositionen Die Komposition ist eine Wortbildungsstruktur, bei der durch die Verbindung von mehreren (mindestens zwei) Basismorphemen oder Stämmen (komplexe Strukturen) ein neues Wort entstanden ist. Sie „ist ein extrem produktives Muster der deutschen Wortbildung. In großen Korpora lassen sich ohne weiteres mehrere Millionen verschiedene Komposita finden.“ 17 4.1. Kompositionen Beispiel 8. [Sekt + Glas] → Sektglas (BM + BM) [Zahnputz + Glas] → Zahnputzglas (Stamm + BM) [Mehrscheiben + Sicherheitsglas] → Mehrscheibensicherheitsglas (Stamm + Stamm) Die syntaktischen Charakteristika der Komposition sind: • Koposita sind in der Regel binär (zweigliedrig) strukturiert. • Sie sind häufig strukturell ambig, vgl. nachfolgende Beispiele (8). • Sie können rekursiv und schrittweise erweitert werden, vgl. Beispiele in (9). Wort Stamm Haustür BM Haus BM tür Wort Stamm Haustürklinke Stamm Haus tür Stamm Klink e Abbildung 4.1: Binäre Struktur Beispiel 9. [Kinder[filmwoche]] ‘Filmwoche für Kinder’ [Kinderfilm[Woche]] ‘Woche des Kinderfilms’ 18 4.1. Kompositionen Beispiel 10. Schutz + Glas = Schutzglas Schutzglas + Sonnen = Sonnenschutzglas Sonnenschutzglas + System = Sonnenschutzglassystem Morphologische Eigenschaften: • Die zweite UK (der Kopf) legt in der Regel die kategorialen und grammatischen Eigenschaften des Gesamtwortes fest. [N Blut] + [Arot] → [Ablutrot] • Typische Wortartenverbindungen von Komposita sind: NN (Hausmann) NA (blutrot) NV (teilhaben) AN (Buntspecht) AA (rotbraun) VV (mähdreschen) VN (Kochstelle) VA (triefnaß) PartV (eintragen) PN (Zwischenfall) PA (überreif ) Nach den semantischen Beziehungen zwischen den unmittelbaren Konstituenten von Komposita bestehen, unterscheidet man: • Wenn zwischen den UKs ein eine hypotaktische (unterordnende) Relation besteht, handelt es sich um Determinativkomposita (DK), wie bei eiskalt. • Wenn zwischen den UKs ein eine parataktische (nebenordnende) Relation handelt es sich um Kopulativkomposita (KK), wie bei nasskalt. 4.1.1 Kopulativkomposition Kopulativkomposita (nebenordnende Komposita) bilden in der deutschen Gegenwartssprache eine relativ kleine Gruppe. Bei den Adjektiven treten sie am häufigsten auf. 19 4.1. Kompositionen Beispiel 11. Zahladjektiv drei + Zahladjektiv zehn → Zahladjektiv dreizehn Witterungsadjektiv nass + Witterungsadjektiv kalt → Witterungsadjektiv nasskalt Da zwischen den UKs eine semantische Gleichrangigkeit angezeigt wird, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: • Die UKs müssen der gleichen Wortart angehören (morphologische Bedingung). • Die UKs müssen die gleiche Bezeichnungsklasse repräsentieren (semantische Bedingung). Da Formative, wie rotbraun unterschiedlich interpretiert werden können, ist es bei gewünschter kopulativer Lesart sinnvoll einen Bindestrich zu setzten. Beispiel 12. Der Rock ist rot-braun gestreift. Ihre Haarfarbe ist rotbraun. 4.1.2 Determinativkomposition Die umfangreichste und produktivste Gruppe unter den Komposita stellen die Determinativkomposita dar. Mittels „Linkserweiterungen“ können sehr lange Gebilde entstehen (wie Rindfleischetikettierungsüberwa- chungsaufgabenübertragungsgesetz)1 . Die rechte Konstituente stellt in der Regel den grammatischen und semantischen Kopf dar, zwischen den Konstituenten besteht eine Modifikator-Kopf-Relation. Sie werden deshalb auch als unterordnende Komposita bezeichnet. 1http://www.sprachlog.de/2013/06/03/das-laengste-wort/; Zugriff 01.08. 2019 20 4.1. Kompositionen N N NX Adj Frei N luft - NY V Präf Ver N anstalt Suff ung Flexiv en Abbildung 4.2: DK In dem folgenden Beispiel (10) sind zwei komplexe Substantive, Sicherheit und Freiluft-Veranstaltungen, enthalten. Letzteres ist ein Determinativkompositum, das die Struktur (Abb. 4.2) hat. Es wird veranschaulicht, dass zwei Nomen (NX und NY ) zu einem neuen verbunden werden. 21 4.1. Kompositionen Beispiel 13. „Sicherheit geht bei Freiluft-Veranstaltungen vor“ a ahttps://www.thueringer-allgemeine.de/; Zugriff 13.08. 20199 Spezielle Determinativkomposionen • Possesivkomposition Das Spezielle dieser Gruppe ist, dass zwischen den UK eine exozentrische semantische Relation besteht, d. h. wird der semantische Kopf nicht im Wort benannt. Dies ist beispielsweise bei Rotkäpchen der Fall. Mit dem Wort wird nicht ‘ein rotes Käppchen’ benannt (DK Lesart mit endozentrischen Kopf) sondern ‘eine Person, mit einem roten Käppchen’. • Rektionskomposition Im Standardfall kann man die spezifische semantische Relation zwischen dem Kopf und dem determinierenden Element bei Neubildungen nicht ohne Kontext ableiten2 . Sie muss aus dem Weltwissen abgeleitet werden und nach der Verfestigung erlernt werden (wie in Beispielen (11). Beispiel 14. Gartenhaus; lokale Relation; [XY]: Y ist in X / wird in X benutzt. Holzhaus, Glashaus; materiale Relation; [XY]: Y ist aus X. Jagdhaus, Wohnhaus, Geschäftshaus, Zweifamilienhaus; instrumentale Relation; [XY]: Y wird für X genutzt. Hochhaus Jedoch ist die semantische Releation bei den so gen. Rektionskomposita, die unter dem Kapitel 1.2 schon angesprochen wurden, aufgrund einer Argument-Prädikat-Relation zwischen den UKs vorhersagbar. So ist 2Langer, Stefan: Zur Morphologie und Semantik von Nominalkomposita; https://web.archive.org/web/20070610075448/http://www.cis.uni- muenchen.de/people/langer/veroeffentlichungen/konvens1998.ps 22 4.1. Kompositionen bei dem RK Postzusteller die Kopfkonstituente eine Ableitung des Verbs zustellen, das aufgrund seiner Rektionseigenschaften (Abb. 4.3) eine Argumentstruktur in das Kompositum einbringt (Abb. 4.4): Das Erstglied Post somit als Argument des deverbalen Kopfs Zusteller verstanden. zustellen AGENS ‘jemand’ ADRESSATEN ‘jemandem’ PATIENS ‘etwas’ Abbildung 4.3: Verbrektion Postzusteller PATIENS Post TUN zustell AGENS er Abbildung 4.4: Rektionskompositum Weitere Beispiele für Rektionskomposita (12): Beispiel 15. Autofahrer, Mathematiklehrer, Stromverbrauch, Messeteilnahme 23 4.1. Kompositionen • Konfixkomposition DKs sind Konfixkomposita, wenn eine der beiden unmittelbaren Konstituenten ein Basismorphem fremder Herkunft ist und so in der deutschen Sprache nicht allein vorkommt, bisher keinen deutschen Wortcharakter hat. Konfixe sind bedeutungstragende Einheiten (mit bestimmter lexikali- Konfix scher Bedeutung), die jedoch nur gebunden auftreten, wie bei öko (Ökobauer, Ökoladen oder Ökopartei). Im Zuge von Grammatikalisierungsprozessen können sie zu selbstständigen Wörtern werden, wie aktuell bio (> Bio, bio3 ) • Phrasenkomposition (PK) Bei der Phrasenkomposition ist die erste UK ein Syntagma, eine Wortgruppe (Hein 2015), wie in „No-Deal-Brexit“ oder „Sturm-und-DrangPhase“. Sie ist von der Phrasenderivation (wie Vergissmeinnicht) zu unterscheiden, bei der ein gesamtes Syntagmadie umkategorisiert wird und der Kopf nicht im Wort ist (ex0zentrisch). PKs treten relativ selten auf und sind oft expressive Einmalbildungen, wie in dem Beispiel Wir-werden-alle-sterben-Advisories (linuxuser, 09.2019, S. 3). • Kontamination Kontaminate „ (auch Wortmischungen, Wortkreuzungen) sind Wörter, bei denen mindestens zwei, offenbar aber auch nie mehr als zwei Wörter ineinander verschachtelt werden“. (Donalies 2004, S. 18) Beispiel 16. Postkarte < Postblatt + Korrespondenzkarte engl. hottle < hot und bottle 3Bio beim Discounter; https://www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/ plusminus/sendung/bio-beim-discounter-102.html; Zugriff 22.08. 2019 24 4.2. Derivationen 4.2 Derivationen Bei den Derivationen entstehen neue Wörter durch das Hinzufügen von Wortbildungsmorphemen. Sie leiten also neue Wörtern von schon vorhandenen ab (Beispiel 14). Beispiel 17. krank + -lich > kränklich krank + -er > Kranker ver- + laufen > verlaufen Ge- + lauf + e > Gelaufe der Lauf Diese Ableitungsmorpheme können Präfixe (Präfigierungen), Suffixe (Suffigierungen) oder Zirkumfixe (Kombination von Präfix mit Suffix, kombinatorische Derivation) sein. Auch ohne sichtbare Ableitungsmorpheme kann eine Umkategorisierung erfolgen (implizite Derivationen), wie in Beispiel 14 der Lauf. 4.2.1 Präfigierung Wort Unsinn N Präfix Un Wort Sinn N [er] [blühen] ingressiv (Beginn, Ansatz eines Prozesses) blühen > [ver] [blühen] egressiv (Abschluss eines Prozesse) In neuerer Zeit grenzt man die Partikelverben von den Präfixverben Partikelverben ab, da ihre Ableitungsmorpheme keine Präfixe sondern Basismorpheme mit Wortcharakter sind. Deshalb treten die nachfolgend in Tab. 4.1 aufgeführten Unterschiede auf. betont abtrennbar Präfix unbetont nicht erziehen; sie erzieht Partikel betont abtrennbar ein’ziehen; sie zieht ein Tabelle 4.1: ... 4.2.2 Suffigierung Bei dieser Ableitungsklasse ist die 2. UK ein Suffix (ein nachgestelltes Wortbildungsmorphem). Dieses Suffix ist auch der Kopf der Wortbildung, da er eine kategorienbildende Funktion hat und damit auch die morphosyntaktischen Merkmale bestimmt. Dabei vollzieht nicht jede Anfügung eines Suffixes eine Änderung der Wortkategorie, (vgl. Lehrer > Lehrerin, arm > ärmlich). 26 4.2. Derivationen Wort Nutzer N V nutz- Suffix er[+N] Suffix